Das Kreuz der Bürger

An den Straßen und Plätzen der Republik stehen jetzt wieder die bunten Plakate mit den schönen Sprüchen. Sie werden nach Lage der Dinge freilich ebenso wenig bewirken wie die Werbe-Aktionen deutscher Prominenter, die im Fernsehen die Bevölkerung in mehr oder weniger geistreichen Trailern bitten: "Wählen gehen!” Diese Aufforderung tut offenbar Not, denn die Attraktivität Europas reicht bei weitem noch nicht aus, um die desinteressierten Bürger am 13. Juni zu den Wahlurnen zu locken.Laut einer Umfrage plant nur jeder dritte wahlberechtigte Europäer, sein Kreuz zu machen und der undurchsichtigen Veranstaltung namens EU-Parlament eine gewisse Legitimation zu verschaffen. Das ist, angesichts der zunehmenden Bedeutung der auf 25 Staaten angewachsenen Union, erbärmlich wenig.Warum ist das so? Warum will es den Verantwortlichen partout nicht gelingen, das in allerbester Absicht gezeugte Nachkriegskind so aufzuhübschen, dass die Leute daran Gefallen finden? Warum können und müssen die 626 Parlamentarier (demnächst 732) jenseits der öffentlichen Wahrnehmung vor sich hinwursteln? Warum wird Europa nur dann wahrgenommen, wenn man um Fördermittel zankt, oder wenn sich "gierige Politiker” per Unterschrift ihr Konto füllen?Nun, eine ebenso simple wie bezeichnende Erklärung ist in einem Vorgang zu suchen, der ein grelles Licht auf die europäische Wirklichkeit wirft: Die EU-Kommission hat ein Abkommen gebilligt, das die Weiterleitung personenbezogener Passagierdaten an die USA vorsieht. Trefflich lässt sich fragen: In wessen Namen haben die (nicht gewählten, sondern ernannten) Kommissare eigentlich gehandelt? Im Namen der Bürger, deren privateste Daten (Adresse, Telefon, Kreditkarten-Nummer, Essensgewohnheiten) sich nun in US-Computern wiederfinden, sicher nicht. Auch nicht im Namen des Europaparlaments, das die Regelung ausdrücklich abgelehnt hat. Allein dieser undemokratisch zu nennende Vorgang zeigt die ganze Machtlosigkeit des Europaparlaments, dessen Bedeutung nur auf dem Papier steht und in Sonntagsreden beschworen wird.Fraglos ist Europa viel zu wichtig, wirtschaftsfördernd und friedensstiftend, um die EU-Institutionen in Abrede zu stellen oder schlecht zu reden. Fraglos gibt es auch keine vernünftige Alternative im Interesse der Zusammenarbeit und Sicherheit auf dem Kontinent. Doch jenseits der unzähligen Konferenzen und Gipfeltreffen sollten sich die Politiker auch einmal überlegen, ob komplizierte "EU-Richtlinien” wirklich ausreichen, um das Augenmerk der Bürger auf ein Gebilde zu lenken, das für das gemeinsame Überleben in Zeiten der Globalisierung immer wichtiger wird. Erst wenn die Menschen durchschauen, was in Brüssel und Straßburg wirklich geschieht, werden sie einen Bezug zum eigenen Leben herstellen, Interesse entwickeln - und zur Wahl gehen. nachrichten.red@volksfreund.de

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