Das letzte Zucken der Bürokraten

Der Mauerfall am 9. November 1989 war ein historischer Glücksfall. Unser Hauptstadt-Korrespondent Werner Kolhoff, damals Sprecher des (West-)Berliner Senats und Vertrauter des Regierenden Bürgermeisters Walter Momper (SPD), schildert in dieser TV-Serie bis zum 12. November täglich seine persönlichen Erlebnisse rund um den Tag des Mauerfalls.

6. November 1989, Montag:



Das soll es also sein. Das groß angekündigte Reisegesetz. Wir sitzen an diesem Montagmorgen in unserem Prager Hotel über einem Telefax von sehr schlechter Qualität. Ein Auszug aus der heutigen Ausgabe des "Neuen Deutschland". Der Gesetzentwurf beginnt mit dem Satz: "Die Bürger der DDR haben das Recht, in das Ausland zu reisen." Klingt gut. Leider gibt es dazu eine "Durchführungsverordnung". In der beginnen alle vier Absätze zu Privatreisen mit dem Wort "Genehmigung". Klingt schon erheblich schlechter.

Die DDR-Bürger sollen für Reisen in das Ausland einen Pass und ein Visum beantragen. Und zwar mindestens einen Monat vorher bei den Volkspolizei-Dienststellen. Und: Mehr als 30 Reisetage im Jahr sind nicht drin. Reisegeld, also Devisen, gibt es nicht, auch nicht das Recht zum Umtausch. Die Ablehnung eines Reisewunsches soll, heißt es in dem Entwurf, "Ausnahmecharakter" haben. Eine Reise dürfe nur dann versagt werden, "wenn dies zum Schutz der nationalen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, der Gesundheit oder der Moral oder der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist".

Schwammiger geht es kaum. Das sind Ablehnungsgründe, die sich immer finden lassen. Ein Oppositioneller? Nein, wegen der öffentlichen Ordnung. Ein Techniker? Nein, wegen der nationalen Sicherheit. Die Jugendgruppe? Nein, wegen der Moral. Aus der versprochenen Reisefreiheit wird mit diesem Gesetz eine Ermächtigung für die DDR-Behörden, das eigene Volk weiter am Gängelband der Bürokraten zu halten.

Dieses Gesetz ist das letzte Aufzucken der Mauer-Ideologen in der SED, die noch immer nicht wahrhaben wollen, dass die Ereignisse längst über sie hinwegrollen. Allein an diesem Wochenende sind 15 000 Menschen über die Tschechoslowakei in den Westen ausgewandert, und das wird so weitergehen. Wir geben noch am Vormittag von Prag aus eine Presseerklärung Walter Mompers heraus: "Die DDR-Regierung hat die Chance vertan, das anhaltende Misstrauen der Bevölkerung an einem entscheidenden Punkt zu durchbrechen", sagt der Regierende Bürgermeister. "Es ist das falsche Signal, wenn der Staat immer noch den Eindruck erweckt, als wolle er die Reisen seiner Bürger reglementieren und mit bürokratischen Prozeduren verbinden." In Bonn nennt die Bundesregierung das Gesetz zu unserer Überraschung hingegen "einen ersten positiven Schritt".

Am späten Nachmittag fahren wir an Dresden vorbei zurück nach Berlin. Im Radio hören wir, dass dort gerade 300 000 Leute an der Montagsdemonstration teilnehmen. In Leipzig sind es 500 000, so viele wie nie. Sie rufen: "Wir wollen nicht mehr Bittsteller sein" und auch: "Die Mauer muss weg." Der Ministerrat hat, so stand es im "Neuen Deutschland", die Bürger aufgefordert, ihre "Vorschläge und Meinungen" zum Reisegesetz schriftlich einzureichen. Doch das machen sie nicht. Sie machen es mündlich, mit Sprechchören. Das neue Reisegesetz, mit dem die SED-Führung Dampf aus dem Kessel nehmen wollte, fällt noch hier und heute durch, auf den Straßen. Und die Regierung von Egon Krenz gerät in ihre finale Legitimationskrise.

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