Das Milliardengeschäft mit der Hilfe für Hungernde

Erst in der vergangenen Woche haben die Vereinten Nationen in einer weiteren Region Somalias eine Hungersnot ausgerufen. Wieder läuft - viel zu spät - internationale Hilfe an. Der Trierer Geograph und Politikwissenschaftler Dr. Johannes Michael Nebe analysiert im folgenden Gastbeitrag Sinn und Zweck der Entwicklungshilfe, über die seit Jahrzehnten viele Milliarden Euro nach Afrika geleitet wurden. Die These des Entwicklungshilfe-Experten: So wie sie bisher praktiziert wurde, hat die Entwicklungshilfe mehr geschadet als genutzt.

"Die Würde des Menschen ist unantastbar", so steht es im Artikel 1, Abs. 1 des Grundgesetzes. Die erschütternden Bilder von völlig entkräfteten Menschen, die der verheerenden Dürre in weiten Landesteilen Äthiopiens, Somalias, Sudans, Ugandas und Kenias zu entfliehen versuchen und häufig tage- ja teilweise sogar wochenlang unterwegs waren, um etwa das rettende Auffanglager in Dadaab im ebenfalls von der Dürre heimgesuchten Nordosten Kenias unweit der somalischen Grenze zu erreichen, sprechen eine andere Sprache. Diese Bilder werden uns noch lange nicht loslassen. Man spricht von einer der größten Hungerkatastrophe der letzten 60 Jahre, von der etwa zwölf Millionen Menschen betroffen sind.

Ähnliche Amplitudenausschläge von Dürrekatastrophen gab es auch in den letzten Jahrzehnten am Horn von Afrika, wenn auch nicht im gleichen Ausmaße wie in diesem Jahr. Die Nahrungsmittellieferungen aus dem Westen hatten immer für eine Linderung der Notsituation gesorgt; die jeweiligen afrikanischen Regierungen konnten sich stets auf diese Hilfe verlassen. Überschussproduktionen an Getreide werden dann zum Beispiel aus den USA eingeflogen, um kurzfristig zu helfen. Diese Lieferungen dienen allein dem Zweck, den amerikanischen Bauern ihre Überschüsse abzukaufen und damit die Preise stabil zu halten. Langfristig ruinieren diese kostenlosen Hilfsimporte die lokalen Märkte in Afrika und wirken deshalb kontraproduktiv.

Eigeninitiative der afrikanischen Staaten, die sich darin zeigen könnte, rechtzeitige Vorkehrungen zu treffen, etwa die Infrastruktur (Straßen) in die Gebiete, die regelmäßig von der Dürre heimgesucht werden, auszubauen sowie Getreide-Vorratspeicher vorzuhalten und den Bau von Bewässerungsprojekten anzulegen, unterbleibt in der Regel, weil ihnen in Notzeiten diese Verantwortung von den "westlichen Samaritern" abgenommen wird.
In den vergangenen Jahren hat sich eine regelrechte "Entwicklungshilfeindustrie" in Milliardenhöhe herausgebildet, die neue Abhängigkeiten schafft und nicht zuletzt den eigenen Nutzen in der Hilfe sieht. Entwicklungshilfe-Experten wissen in der Regel viel zu wenig über die besonderen Sozialstrukturen, Traditionen und Kulturen ihrer Einsatzgebiete, um darauf ihre Entwicklungshilfe maßgeschneidert abzustimmen. Die weit verbreitete Korruption in Afrika macht darüber hinaus eine Entwicklungshilfe, die den Menschen und ihren Bedürfnissen angepasst wird, nahezu unmöglich, weil einfach ein Großteil der Hilfsgelder zweckentfremdet wird. Warnungen der Wetterdienste in Ostafrika, dass eine drohende Dürreperiode im Sommer 2011 zu erwarten ist, gab es bereits im September 2010, und sie wurden verstärkt im Frühjahr 2011 wiederholt. Aber diese Warnungen blieben folgenlos, weil man sich immer auf die westlichen Hilfsgüter-Lieferungen verlassen konnte.
Verfehlte Entwicklungspolitik

Die Kritik an der westlichen Entwicklungspolitik wird nicht nur in Deutschland in den vergangenen Jahren geführt, so vor allem von Rupert Neudeck, Volker Seitz und Kurt Gerhardt, die eine völlige Umkehr der bisherigen Entwicklungspolitik fordern, sondern auch renommierte Politökonomen aus Afrika erheben immer lauter ihre kritischen Stimmen. Hier sind es vor allem die Aussagen von James Shikwati aus Kenia "Wer Afrika helfen will, darf kein Geld geben", Andrew Mwenda aus Uganda "Der Grund für die anhaltende Armut ist die Entwicklungshilfe selbst!" und Dambisa Moyo, ursprünglich aus Sambia, die feststellt "Der Grund für den afrikanischen Rückstand ist hauptsächlich die Entwicklungshilfe" und von George Ayittey aus Ghana "Mehr als 450 Milliarden Dollar - das entspricht sechs Marschall-Plänen! - wurden seit 1960 ohne erkennbares Ergebnis nach Afrika gepumpt", die belegen, dass die bislang praktizierte Entwicklungshilfe eher schädlich als segensreich für die Entwicklung der afrikanischen Länder war. Diese schonungslose Kritik sollte eigentlich der "westlichen Entwicklungshilfe" Anlass zum Nachdenken gegeben haben.

Es soll nicht vergessen werden, dass es eine Reihe von überaus engagierten Helfern und nützlichen Projekten gibt, ohne die es in manchen Krisenregionen noch sehr viel schlimmer aussehen würde. Von diesen Initiativen könnte man ebenso lernen wie von der ansteckenden Kreativität der Armut, die sich im Unternehmergeist der informellen Ökonomie in den Slums von Nairobi ausdrückt.

Eine politisch desolate Situation

.Aufgaben, die der Staat eigentlich zu erfüllen hat, werden von ihm nicht wahrgenommen. Staatliche Innovationsfreudigkeit und Eigeninitiative bleiben ein rares Gut. Unzählige internationale und nationale Nichtregierungsorganisationen tummeln sich auf dem Feld der Armutsbekämpfung, allerdings sind auch sie anfällig für Korruption. Abgestimmte Programme unter einander gibt es so gut wie nicht. Jede Organisation wurstelt für sich und verschwindet meist auch wieder ohne nachhaltige Spuren ihrer Arbeit zu hinterlassen. Nur wenige vorbildliche Ausnahmen gibt es. Auch wenn es hart klingt: Entwicklungshilfe ist ein einziges Geschäft!

Das Horn von Afrika ist vielen Menschen bei uns wegen der dort regelmäßigen Dürre-Katastrophen negativ besetzt. Scheinbar ein Raum, der nie zur Ruhe kommt und für die Menschen keine Perspektive bietet. Somalia befindet sich seit 1991 im Bürgerkrieg. Große Teile des Landes befinden sich unter der Herrschaft der Al-Shabaab, einer radikalen Gruppierung des Islam. Das Gesetz ist die Sharia. Durch Raubbau an der Natur schreitet die Wüstenbildung voran. Auf dem Korruptionswahrnehmungsindex 2010 von Transparency International rangiert Somalia auf dem letzten Platz von insgesamt untersuchten 180 Ländern. Äthiopien hat zwar eine "demokratische Verfassung" und ein Mehrparteiensystem; in Wirklichkeit herrscht hier Ministerpräsident Meles Zenawi uneingeschränkt. Sein Wahlbündnis EPRDF wurde 2010 mit 99,6 Prozent der Stimmen gewählt. Die Opposition wird unterdrückt. Kenia, ein beliebtes Urlaubsland der Deutschen, hat seinen bisher guten Ruf durch die gefälschten Präsidentschaftswahlen im Dezember 2007 und die damit zusammenhängenden Unruhen mit 1500 Toten und 600.000 ethnischen Vertreibungen stark eingebüßt. Schon seit zwei Jahren wird ausschließlich über die im August 2012 stattfindende nächste Präsidentschaftswahl in den Medien gestritten. Das Thema der Hungersnot ist da nur ein untergeordnetes Thema.

Ein neues Bild von Kenia

In der politischen Diskussion in Afrika wird häufig zwischen der "Geparden" und der "Nilpferd-Generation" unterschieden, um im Vergleich mit der afrikanischen Tierwelt zu bleiben. Damit werden Verhaltensweisen und Attitüden sehr unterschiedlicher Politiker-Generationen gekennzeichnet. Mit der "Nilpferd-Generation" ist die alte, satte Politikergeneration gemeint, die nicht mehr willens ist, die Wünsche einer jungen Bevölkerung nach mehr Mitsprache und Mitverantwortung zu thematisieren und auch zu erfüllen. Mit der "Geparden-Generation" ist dagegen die junge, dynamische Generation gemeint, die nach neuen Wegen einer gelebten Demokratie sucht und Verantwortung für die Gesellschaft übernehmen will.

Bei meinem jüngsten Besuch Kenias im August habe ich allerdings erstaunliche Beobachtungen machen können. Die Hungerkatastrophe hat nun eine Diskussion und Anteilnahme in der kenianischen Bevölkerung ausgelöst, was kaum zu erwarten war, da die Wahrnehmung von immer wiederkehrenden Dürreperioden in Kenia schon zum Alltag gehören. In diesem Jahr war alles anders. Die kenianischen Medien berichten täglich von erschütternden Zuständen der vor Hunger und auch Gewalt fliehenden Menschen aus Somalia. Der Fernseh-Sender Citizen übernimmt dabei eine wichtige Funktion. Die dramatischen Bilder und aufrüttelnden Kommentare schaffen eine starke Emotionalität und Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung. Im Radio und in den kenianischen Tageszeitungen ist dies seit Wochen das dominierende Thema. Der "Standard" beklagt in seinen Ausgaben vom 9. und 10. August eine Führungsschwäche der Regierung, die dieser Krisensituation nur unzureichend gewachsen ist und vielmehr Hilfe aus der ‚westlichen Welt' erfleht. Es fehle überhaupt seit Jahren der politische Wille für derartige Krisen vorbereitet zu sein. Diese Töne sind neu und machen den wachsenden Unmut über die Regierung deutlich. In der Bevölkerung gibt es nun eine Vielzahl "junger Geparden", die diese Hungerkatastrophe zum Anlass nehmen, tätige Nächstenliebe zu praktizieren, indem von den Kirchen, den Schulen, Organisationen der Zivilgesellschaft, aber auch von Einzelpersonen Initiativen ausgehen, die die Not lindern wollen. In der ‚Daily Nation' am 2. August wird der Regierung sogar absolute Unfähigkeit vorgeworfen, die Hungerproblematik nicht in den Griff bekommen zu haben. Diese Töne sind neu und machen den wachsenden Unmut über die Regierung deutlich. Die größte Aufmerksamkeit erhält eine Initiative, die sich den einprägsamen Slogan "Kenyans for Kenya" gibt und neben Sponsoren aus der Privatwirtschaft von der breiten Bevölkerung begeistert unterstützt wird. Schon nach wenigen Tagen wurde die Summe von einer Million Euro gesammelt, die dem kenianischen Roten Kreuz zur Verfügung gestellt wurden. Die Aktion läuft noch immer, bei meiner Rückkehr nach Deutschland waren es bereits rund zehn Millionen Euro, die vor allem in Lebensmittel und Medikamente umgesetzt und mit Fahrzeugen des Roten Kreuzes in die Hungergebiete gebracht wurden. Diese Aktion geht auch in diesen Tagen noch weiter. Die in Kenia überaus beliebte Moderatorin Julie Gichuru von Citizen ist die Hauptwerbeträgerin dieser Aktion, vergleichbar etwa einem Günther Jauch in Deutschland. T-Shirts mit der Aufschrift "Kenyans for Kenya" und dem Zusatz "Together we make a difference!" sind der absolute Verkaufsschlager. Diese Kampagne ist ein starker Ausdruck der Zivilgesellschaft und beweist, dass ein über die ethnischen Grenzen hinaus gehender gemeinsamer Wille existiert, in Problemzeiten zusammenzustehen.

Auf diese Weise hat Kenia durch das Engagement der Privatwirtschaft und durch die Spenden des normalen Bürgers ein neues zuversichtlicheres Gesicht bekommen, eigene Probleme nicht nur mit fremder Unterstützung zu bestehen, die ja auch nur kurzfristig hilft. Die deutsche Entwicklungspolitik wäre klug beraten, in konkrete Projekte der ökologischen Agrarwirtschaft - vorrangig in Bewässerungssysteme - zu intensivieren und dies in enger Kooperation mit lokalen kenianischen Initiativen.

Die Menschen rücken zusammen

Ein Positives hat die Dürrekatastrophe bewirkt: In Kenia wurde von den Medien sehr deutlich das Versagen der Regierung angeprangert. Die Menschen sind stärker zusammengerückt und fühlen sich verantwortlich für das, was in ihrem Land geschieht. Ethnische Grenzen können auf diese Weise Schritt für Schritt abgebaut werden. Die Erkenntnis sollte reifen, dass Entwicklungspolitik und Entwicklungszusammenarbeit "von unten" beginnen muss, das heißt, überschaubare Projekte, sollten immer in enger Zusammenarbeit mit lokalen Initiativen durchgeführt werden. Dies sind zum Beispiel die Erfahrungen der Universität Trier, die in den vergangenen zwölf Jahren gemacht worden sind. Zurzeit plant ein studentischer Förderverein mit dem Namen "Elimu -Bildung in Ostafrika e.V." (www.elimu-ev.org) ein Berufsschulzentrum im ländlichen Raum im Westen Kenias, um hier den Jugendlichen in verschiedenen Sparten (Farmer, Schreiner, Schneider und so weiter) eine praktische Ausbildung zu ermöglichen. Damit in engem Zusammenhang steht auch die Entwicklung eines ökologischen Landwirtschafts-Projektes, das zur Ernährungssicherheit beitragen soll. Je kleinteiliger die Projekte, umso effektiver werden die Erfolge für die Menschen sein!

Extra: Zur Person

Dr. Johannes Michael Nebe hat seit 1980 an der Universität Trier im Bereich der Raumentwicklung und Landesplanung gelehrt. Er baute seit 1997 einen Afrika-Schwerpunkt aus und initiierte eine Partnerschaft zwischen der Uni Trier und UN-Habitat, Nairobi. Ab dem Wintersemester 2011/12 ist er Lehrbeauftragter für das Lehrgebiet "Entwicklungspolitik und Entwicklungszusammenarbeit" in der Politikwissenschaft.

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