Das Schweigen der Heldin

Washington . Ihre Rettung aus irakischer Kriegsgefangenschaft sorgte während der Kämpfe am Golf für Aufsehen. Doch inzwischen stehen hinter der Geschichte Jessica Lynchs große Fragezeichen.

Jessica Lynch könnte längst Millionärin sein. Der US-Fernsehsender CBS hat der gerade 20-jährigen Gefreiten eine Hollywood-Rolle, ein Buchprojekt und Auftritte beim Musikkanal MTV angeboten, wenn sie für ein Fernsehinterview zur Verfügung stünde. Denn Jessica Lynch hat alles, was ein perfektes Drehbuch verlangen würde: Die Soldatin in einer Versorgungskompanie ist jung, blond, attraktiv - und hat aufgrund dessen, was das Verteidigungsministerium über sie berichtet hat, Heldenstatus. Als ihre Einheit in den ersten Kriegstagen im irakischen Nasarijah in einen Hinterhalt geriet, habe sie - von mehreren Schüssen getroffen - neben toten Kameraden stehend bis zur letzten Patrone gekämpft. Dann kam die Gefangenschaft, gefolgt von einer spektakulären nächtlichen Befreiungsaktion aus einem irakischen Hospital durch US-Sondereinheiten. Amerika durfte angesichts der gefilmten Rettungsszenen jubeln - zu einem Zeitpunkt, als es mit der Moral der Truppen angesichts des ins Stocken geratenen Vormarsches nicht gerade zum besten stand und sich die Golfkriegs-Generäle massive Vorhaltungen in Sachen Strategie gefallen lassen mussten. Doch Jessica Lynch, weiter in einem Krankenhaus von der Öffentlichkeit abgeschirmt, redet nicht. Anders als bei allen anderen Golfkriegs-Gefangenen weist das Pentagon entsprechende Anfragen immer wieder zurück. Sie leide an Amnesie, könne sich nicht an das Geschehene erinnern, lautet die Begründung. Eine Argumentation, die in den USA mittlerweile vor allem eine Frage aufgeworfen hat: Kann oder darf sich die Soldatin nicht erinnern? Widersprüche, die an der offiziellen Version zweifeln lassen, gibt es zur Genüge. Jessica Lynch weist nach Darstellung der behandelnden Ärzte und Aussagen ihrer Eltern keinerlei Schussverletzungen auf, sondern hat zahlreiche gebrochene Knochen in Armen und Beinen. Dies passt so gar nicht zu jenem heroischen "Kampf bis zur letzten Patrone"-Bild, das von US-Militärs gezeichnet worden war. Andere Kritiker stellen auch die Frage: Woher kennt das Pentagon die Einzelheiten ihres Kampfes gegen die Iraker, wenn sie doch unter einem kompletten Gedächtnisverlust leiden soll? Unabhängige Mediziner weisen zudem darauf hin, dass die Knochenbrüche der Gefreiten eine typische Folge von Folterungen sein könnten. Doch Folterungen in der Gefangenschaft - das ist keine Nachricht, die ein General kämpfenden Truppen gerne überbringt. Verdacht erregt auch der Umstand, dass das Verteidigungsministerium den Fernseh-Sendern nur zuvor bearbeitete Videoaufnahmen der Befreiung zur Verfügung stellte. Mitarbeiter des britischen Senders BBC unterstellen mittlerweile, auch die Rettungsaktion in Nasarijah sei in Hollywoodmanier übertrieben dargestellt worden. Denn die Befragung von Krankenhaus-Mitarbeitern habe ergeben, dass es um das Hospital gar keine irakischen Wächter mehr gab. Ein Iraker gab sogar an, dass das Pflegepersonal versucht habe, die Gefangene auf einer Trage zu einem US-Stützpunkt zu bringen - dort aber von waffenschwingenden Soldaten abgewiesen worden sei. Was geschah also wirklich? Eine Antwort darauf kann nur Jessica Lynch geben. Doch die Heldin schweigt weiter.

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