Das Schweigen soll ein Ende haben

Das Schweigen über sexuellen Missbrauch in Schulen oder kirchlichen Einrichtungen soll nach dem Willen der Bundesregierung ein Ende haben. Als neue Anlaufstellen hat das Bundeskabinett am Mittwoch einen Runden Tisch beschlossen und eine Missbrauchsbeauftragte eingesetzt.

Berlin. Die Frage ist berechtigt: Wenn die Täter und Opfer des sexuellen Missbrauchs in Heimen und Schulen in der Regel männlich sind, warum kümmern sich um die politischen Konsequenzen ausschließlich die Frauen? Die Antwort von Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) fiel gestern ausweichend aus: Am Runden Tisch, auf den sich die Regierung geeinigt hat, würden selbstverständlich auch Männer Platz nehmen. Die Einberufung des Gremiums sei vor allem aber ein "ganz wichtiger Tag für die zahlreichen Opfer der Missbrauchsfälle", meinte die Ministerin.

Einigkeit im Vorgehen wollten Familienministerin Kristina Schröder, Bildungsministerin Annette Schavan (beide CDU) und Leutheusser-Schnarrenberger bei einer gemeinsamen Pressekonferenz zeigen. Denn vor einer Woche musste noch Bundeskanzlerin Angela Merkel eingreifen, um die drei Ressortchefinnen zu einer Linie zu bewegen. Ursprünglich waren zwei Runde Tische geplant. "Wir haben auch nach wie vor unterschiedliche Zuständigkeiten", betonte Schröder, was sich bei Struktur und Besetzung des Gremiums jetzt durchaus widerspiegelt.

Die frühere Bundesfamilienministerin Christine Bergmann (SPD) wurde vom Kabinett zur Regierungsbeauftragten im Kampf gegen den sexuellen Missbrauch benannt. Ihre Aufgabe ist es nicht, "wie ein Gericht festzustellen, dass es sexuellen Missbrauch gab", so Schröder. Sondern die 70-Jährige soll mit Opfern sprechen und Vorschläge zur "materiellen und immateriellen Hilfen" für Betroffene machen. Bergmann hatte während ihrer Amtszeit 1998 bis 2002 "große Erfahrungen" in dem Bereich gesammelt. Der Runde Tisch soll am 23. April seine Arbeit aufnehmen und sie bis zum Ende des Jahres abschließen.

Eine rechtliche und eine präventive Arbeitsgruppen



Die Ministerinnen einigten sich dabei auf zwei Unterarbeitsgruppen: Die eine - unter der Leitung von Kristina Schröder - werde an Vorschlägen zur Prävention arbeiten, um Kinder, Eltern und Erzieher stärker zu sensibilisieren. Die vielen Missbrauchsfälle, die ans Tageslicht gekommen seien, "waren bekannt, es wurde gemunkelt, geraunt, gewitzelt", sagte Schröder. Aber die Schwelle zur Meldung "wurde oft nicht überschritten". Und wenn doch, seien die Hinweise ignoriert worden. Außerdem müsse es darum gehen, wie man pädophile Menschen darin unterstützen könne, nicht zum Täter zu werden.

Die andere Gruppe - unter der Leitung von Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger - soll sich mit rechtlichen Fragen befassen, also auch über Strafverfolgung und Verjährungsfristen in Missbrauchsfällen beraten. Deshalb würden zusätzlich Vertreter aus der Rechtspflege in das Gremium geholt, so Leutheusser-Schnarrenberger. Vertreter von Opfer- und Familienverbänden hatten ebenso wie die katholische Kirche bereits ihre Beteiligung zugesagt. Mit gut 40 Teilnehmern wird daher gerechnet.

Der Runde Tisch soll zudem "klare Verhaltensregeln" im Umgang mit Kindesmissbrauch erarbeiten. Es habe in den verschiedenen Einrichtungen "viel Fahrlässigkeit gegeben", bemängelte Schavan. Sie erinnerte allerdings daran, dass der häufigste Missbrauch im familiären Umfeld passiere.

Am heutigen Donnerstag wird sich der Bundestag in einer Aktuellen Stunde auf Antrag der Grünen mit dem Thema befassen.

Meinung

Täter, Opfer, Runde Tische

Es wären von ihrem moralischen Anspruch her zuerst die Kirchen, die helfen müssten, wenn Menschen Furchtbares geschehen ist. Die den Opfern zur Seite stehen und auch den Tätern einen Weg der Reue zeigen müssten. Doch es ist in zwei Fällen jetzt der Staat, der Runde Tische einberuft und der dabei die Kirchen regelrecht vorladen muss, um sie überhaupt dazu zu bringen, sich mit Opfern auseinanderzusetzen. Mit ihren Opfern. Das gilt für den bereits länger tagenden Runden Tisch zum Schicksal der ehemaligen Heimkinder, und das gilt ebenso für den neuen Runden Tisch zu den sexuellen Übergriffen in Heimen und Schulen. Natürlich sind nicht "die Kirchen" die Täter. Natürlich ist Gewalt in Erziehung, Familie und Sexualität nicht ihr Monopol, erst recht war es das nicht im Nachkriegsdeutschland. Und trotzdem bleibt es ein Versagen der Kirchen, dass sie die Aufarbeitung des in ihren Reihen geschehenen Unrechts nicht schon früher in Gang gesetzt haben, nicht im Einzelnen und nicht im Grundsatz. Ganz im Gegenteil, bis vor kurzem war die Vertuschung geradezu das elfte Gebot. Dieser Fehler ist nicht durch zehn Vater Unser, sondern nur durch tätige Reue zu korrigieren. Aktive Mitarbeit an den Runden Tischen darf man jetzt verlangen; ebenso die Öffnung der Archive und der Schatullen für die Opfer. Und speziell von der Katholischen Kirche einen eigenen Runden Tisch zum Zölibat und seinen seelischen Verwüstungen. nachrichten.red@volksfreund.deEXTRA Der Schweizer Theologe Hans Küng hat Papst Benedikt XVI. vorgeworfen, wichtige Informationen über Missbrauchsfälle geheim gehalten zu haben. "Es gab in der ganzen katholischen Kirche keinen einzigen Mann, der so viel wusste über die Missbrauchsfälle", sagte Küng. Nach Angaben seines Büros bezog sich der Kirchenkritiker auf einen Brief, den Joseph Ratzinger 2001 geschrieben hatte. Darin seien die Würdenträger angewiesen worden, alle Anschuldigungen zu Missbrauchsfällen an Ratzinger weiterzuleiten. (dpa)

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