Das unbekannte Wesen

15 Jahre nach der Wiedervereinigung scheint der Ostdeutsche immer noch ein unbekanntes Wesen zu sein. Nicht anders lässt sich erklären, dass eine etablierte Partei wie die CDU pünktlich zur heraufziehenden Bundestagswahl einen vertrauten Reflex beschwört: Da war doch noch etwas.

Für die Karikaturisten ist der öffentlich zelebrierte Streit über eine spezielle Wahlkampfstrategie Ost längst ein gefundenes Fressen. Mal geistert Angela Merkel mit einem Trabi durch die Gazetten. Ein anderes Mal steht "Ossi-Angie" vor dem Spiegel, um eine Rede an die lieben Arbeitslosen und Protestwähler zu üben. Mit Pinselstrichen und Retuschen wird sich der Neufünfländer freilich nicht politisch in den Bann ziehen lassen. Dafür sind die Enttäuschungen einfach zu groß. Wer heute im Osten weilt, der befindet sich vielerorts im moderneren Teil Deutschlands. Hinter den schmucken Fassaden sieht die Welt jedoch häufig anders aus. Seit rund acht Jahren in Folge bleibt das Wirtschaftswachstum Ost hinter dem westdeutschen Niveau zurück. Wurden Arbeitslose noch zu Beginn der 90er Jahre durch großzügige Vorruhestandsregelungen ruhig gestellt, so ist dafür mittlerweile nicht nur kein Geld mehr vorhanden. Zunehmend sind die Betroffenen schlicht zu jung, um bereits ans Rentnerdasein zu denken. Die rot-grüne Bundesregierung hat es nicht verstanden, diesen Menschen eine Perspektive aufzuzeigen. Ihr gescheitertes Versprechen, die Arbeitslosigkeit signifikant zu senken, sorgt besonders im Osten für Angst und Verunsicherung. Ist doch die Erwerbslosenquote hier flächendeckend mindestens doppelt so hoch wie in den alten Ländern. Schröders Koalition unterscheidet sich dabei übrigens kaum von der Vorgängerregierung unter Helmut Kohl. Beide trösteten den Osten nach der Devise: Es wird schon alles werden. Aber daraus ist eben nichts geworden. Allein vor diesem Hintergrund muss klar sein, dass Ost und West nicht einheitlich, sondern höchst unterschiedlich ticken. Ausdruck dafür ist der scheinbar unaufhaltsame Aufstieg der Linkspartei. Wer sich besonders frustriert fühlt, der ist auch anfälliger für illusionäre Vorstellungen, wie sie PDS und WASG verbreiten. Nicht, dass jemand ernsthaft glaubt, eine Mindestrente von 800 Euro für alle oder 420 Euro Arbeitslosengeld II seien realistisch. Was viele Ossis treibt, ist Protest gegen den politischen Rest, verbunden mit der diffusen Sehnsucht nach einem vertrauten Unterstand. Die Reaktionen der Konkurrenz zeugen von erschreckender Hilflosigkeit. Bei der Union entdeckt man plötzlich die geographische Herkunft von Angela Merkel. Doch nur, weil sie aus der Uckermark kommt, wird niemand im Osten CDU wählen. Hätte Merkel ihre ostdeutschen Wurzeln ständig zur Schau getragen, wäre sie in der Union auch nie Kanzlerkandidatin geworden. Den meisten Ostdeutschen ist etwas anderes wichtiger: Sie haben ein sensibles Gespür dafür, ob sie von der politischen Elite ernst genommen werden. Kurzum, ob man sich um sie kümmert oder nicht. Union und SPD erwecken jedoch den fatalen Eindruck, als interessierten sie sich nur in Wahlkampfzeiten für ostdeutsche Belange. Nur wenn dieser Makel verschwindet, wird auch die PDS im Osten ihre Anziehungskraft verlieren. nachrichten.red@volksfreund.de

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