Den Letten gehen die Ukrainer nah

Riga · An diesem Donnerstag treffen sich die Staats- und Regierungschefs mit sechs Partnerländern im Osten. Das letzte Treffen löste indirekt den Krieg in der Ostukraine aus. Deshalb will Gastgeber Lettland, mit einer russischen Minderheit im Land direkt davon betroffen, nun Taten sehen.

 ILLUSTRATION - FILE - People wave a Ukrainian flag outside of the Palace of the Grand Dukes of Lithuania in Vilnius, Lithuania, 29 November 2013. Photo: RAINER JENSEN/dpa (zu dpa Themenpaket "Ostpartnerschaftsgipfel in Riga" vom 20.05.2015) +++(c) dpa - Bildfunk+++

ILLUSTRATION - FILE - People wave a Ukrainian flag outside of the Palace of the Grand Dukes of Lithuania in Vilnius, Lithuania, 29 November 2013. Photo: RAINER JENSEN/dpa (zu dpa Themenpaket "Ostpartnerschaftsgipfel in Riga" vom 20.05.2015) +++(c) dpa - Bildfunk+++

Foto: Rainer Jensen (dpa)

Manchmal wundert sich Selga Kazaka, dass die beiden Welten Lettlands noch nicht kollidiert sind. Sie zum Beispiel schwärmt über die neue Zeit seit der Wende 1991, obwohl ihre Rente nicht zum Leben reicht, weshalb sie im Sommer deutschen Touristen die wunderschöne Altstadt von Riga nahebringt und den Winter als Vollzeitpflegerin in Deutschland verbringt: "Der große Unterschied zur Sowjetzeit ist, dass wir nun Demokratie haben und jeder sagen, kann was er denkt." Auch ihre Kollegin, die dieselbe Riga-Tour auf Russisch anbietet und wie die meisten Angehörigen der 27 Prozent starken russischen Minderheit ganz anders tickt: "Sie glaubt noch immer nicht, dass russische Soldaten in der Ukraine kämpfen", erzählt Selga Kazaka, "ich kann einfach nicht verstehen, dass sie immer noch an Putin glaubt." Und trotzdem, sie mögen sich.

Der Krieg in der Ostukraine ist in Lettland allgegenwärtig. Das mit einem Wirtschaftseinbruch von 18 Prozent am stärksten von der Finanzkrise 2009 betroffene Land ist von den russischen Gegensanktionen besonders betroffen, der zarte Aufschwung wieder in Gefahr. Überdies sind drei Prozent der rund zwei Millionen Einwohner selbst Ukrainer. Vor allem ist da die Sorge, die Russen in Lettland, zu UdSSR-Zeiten verstärkt im Baltikum angesiedelt, könnten wie in der Ukraine doch einmal Hilfe aus Moskau anfordern. Schließlich bekommen sie das vom russischen Fernsehen, Putins Sendern, eingetrichtert.

Esther Bartl vom Lettischen Institut für internationale Angelegenheiten, hinter dem Dom der alten Hansestadt gelegen, hat gerade "Russlands Soft-Power-Einfluss in Lettland" in einer Studie zusammengefasst. "Putins Regierung weist immer wieder auf Menschenrechtsverletzungen an ethnischen Russen durch die lettische Regierung hin", schreibt sie. Gemeint ist, dass seit der Unabhängigkeit 1991 die Amtssprache nicht mehr Russisch, sondern allein Lettisch ist und viele Russischstämmige keine Staatsbürgerschaft bekommen, da Sprach- und Geschichtskenntnisse verlangt werden. Daher können sie nicht wählen und bekommen bestimmte Jobs nicht. In einem weiteren Fall vermeintlicher Diskriminierung untersagte der lettische Rundfunkrat im April 2014 für drei Monate die Ausstrahlung des russischen Staatsfernsehens. Die Berichterstattung über die Ukrainekrise war als einseitig und Gefahr für die nationale Sicherheit eingestuft worden.

Verfangen hat die Einflussnahme bisher nicht. Lettlands Außenminister Edgars Rinkevics verweist darauf, dass die radikalere der beiden russischen Parteien wieder an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert, der Lebensstandard höher ist als im großen Nachbarland und anteilig nicht mehr Russen als Letten arbeitslos sind. Und da ist die Nato-Mitgliedschaft, die eine Intervention "unwahrscheinlich" mache, wie Esther Bartl allen Friktionen zum Trotz resümiert. Der Politologe Ainars Dimants hat das in einem Zeitungsinterview in eine griffige Formel gepackt: "Putin wäre heute in Lettland, wenn wir kein Nato-Mitglied wären."

Diesen Schutz möchten die Letten auch anderen Exsowjetrepubliken gewähren - wenn nicht in der Nato, so doch wenigstens in der EU. Das erklärt die Bedeutung, die dem Gipfel der östlichen Partnerschaft an diesem Donnerstag und Freitag in Riga beigemessen wird. Als Stadtführerin Selga Kazaka auf das schmucke Schwarzhäupterhaus zeigt, wo Angela Merkel & Co. mit den Vertretern aus Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Moldawien , Weißrussland und der Ukraine zu Abend essen werden, entfährt ihr, dass "in diesem Haus bald über die Zukunft Europas entschieden wird".

Während dem Treffen hierzulande kaum große Bedeutung beigemessen wird, ist das im Land des aktuellen EU-Ratsvorsitzes anders. Visafreiheit für die sechs Länder solle vereinbart werden, fordern die drei Baltenstaaten, Schweden und Rumänien - und eine EU-Beitrittsperspektive. Enthalten solle die Gipfelerklärung zumindest "nach vorne schauende Sprache zu den weitergehenden Hoffnungen dieser Länder in Bezug auf ihre Beziehung zur EU", wie Lettlands Chefdiplomat Rinkevics holperig in einem Beitrag für die Parlamentszeitung des Landes formulierte. Die Bundesregierung lehnt das, ebenfalls unter Hinweis auf die heikle Lage in der Ukraine, ab. "Das passt nicht in die politische Landschaft", sagt ein EU-Diplomat, "und würde Russland neu provozieren." Noch am Mittwoch wurde in Brüssel im Kreis der Botschafter über die Formulierung gerungen.

Einig ist man sich zumindest darin Konsequenzen ziehen zu wollen daraus, dass sich die EU-Ostpartnerschaft - milde formuliert - nicht so entwickelt hat wie erwartet. Zwar soll erneut betont werden, dass sie sich nicht gegen Russland richtet, doch ist die Realität in der Ukraine so, dass die Moskauer Furcht vor Verlust der Einflusssphäre zu Krieg geführt hat. Ob die Konsequenz aber mehr oder weniger Partnerschaft heißt, bleibt umstritten.

Das formelkompromisshafte Zauberwort, das sich im Entwurf der Gipfelerklärung findet, heißt "Differenzierung". Während die Partnerschaftsabkommen mit den weiter Richtung Europa strebenden Georgiern, Moldawiern und Ukrainern trotz allen Moskauer Unmuts im Januar 2016 in Kraft gesetzt werden sollen, sind für Armenien, Aserbaidschan und Weißrussland kleinere Annäherungsschritte vorgesehen. Die Länder, die auf Druck des Kreml Mitglied in dessen Eurasischer Union wurden, sollen Zugang zum Studentenaustausch Erasmus und dem Forschungsprogramm Horizon erhalten. Auch in Energiefragen, für die sich die EU sehr interessiert, soll enger kooperiert werden.

Verhandelt wird der künftige Umgang mit Putins Russland im Stolz des modernen Lettland. Mit einer Menschenkette, die an die Unabhängigkeitskampf erinnerte, trugen die Rigaer Letten vergangenes Jahr die Bücher in die neue futuristische Nationalbibliothek am Ufer der Daugava. Dort wird keine "gefährliche" Literatur ausgesondert wie noch zu Sowjetzeiten. "Noch in den Achtzigern wurden unsere Dichter nach Sibirien geschickt, weil sie unliebsame Verse schrieben", erzählt Selga Kazaka: "Ich will nicht, dass diese Zeit wiederkommt."
Extra

Der Gipfel in Riga

Ostpartner Beschlossen wurde die östliche Partnerschaft 2008. Ziel war es, Ländern ohne echte EU-Beitrittsperspektive dennoch ein Format zur Zusammenarbeit anbieten zu können - manche sagen, um sie draußen zu halten. Dabei sind Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Moldawien, die Ukraine und Weißrussland. Der erste Gipfel fand 2009 in Prag statt, Treffen in Warschau und Vilnius folgten. Dort setzte die Weigerung von Kiews Präsident Victor Janukowitsch ein EU-Partnerschaftsabkommen zu unterzeichnen, eine Entwicklung in Gang, die zur Annexion der Krim durch Russland und den Krieg in der Ostukraine führte.
Europartner Auch in Riga kommt das Thema Griechenland zur Sprache. Athen hofft auf einen Durchbruch, da sich Premier Tsipras mit Kanzlerin Merkel trifft. In den Vorgesprächen hat man sich angenähert, doch verweist die Bundesregierung darauf, dass eine Einigung Sache der Finanzminister sei.

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