Der Ast und die Säge

Was läuft schief im alten Wirtschaftswunderland? Die Exporte boomen, die Infrastruktur ist hervorragend, das Engagement groß. Die Arbeitnehmer gelten als fleißig und gut ausgebildet, sie schlucken Sozialreformen und magere Lohnabschlüsse. Auch Geld ist in Hülle und Fülle vorhanden: Die großen Konzerne bilanzieren Milliardengewinne.

Zusätzlich sind sich die gesellschaftlichen Gruppen einig, dass der Reformprozess weiter gehen muss. Warum also funktioniert es nicht? Das deutsche System funktioniert nicht mehr, weil die wirklich Verantwortlichen kein Interesse daran haben. Wohlgemerkt am Sy-stem, nicht am Funktionieren. Die deutschen Unternehmer, zu seligen Ludwig-Erhard-Zeiten ebenso stolze wie patriotische Vertreter ihrer Zunft, denken nunmehr global, also amerikanisch. Wie hoch ist der Profit? Wie kann ich ihn noch steigern?

Die Mitarbeiter, denen früher auch patriarchalische Fürsorge zuteil wurde, werden heute vornehmlich als Kostenfaktor betrachtet. Bundeswirtschaftsminister Clement sprach gestern beim Versuch der Erklärung der Massenarbeitslosigkeit vom „Verantwortungsgefühl“, das er bei vielen Wirtschaftsführern offenbar vermisst. Er mahnte einen „modernen Patriotismus“ an, allerdings ohne zu sagen, was er sich darunter vorstellt. Tatsächlich ist die Wirtschafts-Ethik der Bosse im Sinne des Wortes „fragwürdig“ geworden. Mit emotionsloser Kühle, die gewiss auch als Selbstschutz dient, kalkulieren, streichen, verlagern und feuern sie. Selbst dann, wenn es gar nicht „nötig“ ist.

In krassem Gegensatz zu den Milliardengewinnen steht der anhaltende Arbeitsplatzabbau. Das gesellschaftliche Sozialgefüge in Deutschland ist aus dem Lot geraten. Gerade die Starken zahlen relativ die wenigsten Steuern, die Finanzierung des Staates wird hauptsächlich von den abhängig Beschäftigten getragen, über Lohn-, Verbrauchs- und Mineralölsteuern. Sollte diese Entwicklung anhalten, sägen die Unternehmen an dem Ast, auf dem wir alle sitzen. Denn erst verschwindet das Vertrauen und später der soziale Frieden. Das Kernübel muss beseitigt werden: die Verunsicherung der Menschen. Wer immer mehr arbeiten und weniger verdienen soll, wer durch Androhung von Arbeitsplatzabbau demotiviert und verängstigt wird, ist nicht konsumfreudig.

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