Der Frustpegel ist hoch

Berlin . Sind es schon die ersten Ausläufer von einem "rasanten Zerfallsprozess", wie FDP-Chef Guido Westerwelle gestern freudig anmerkte? Oder sind es nur Retourkutschen, Ablenkungsmanöver und verbale Profilierungsversuche, die die Akteure der schwarz-roten Koalition derzeit auf der politischen Bühne in Berlin aufführen? Vermutlich von allem etwas.

Das Klima zwischen Union und SPD ist deutlich rauer geworden. Seit Kanzlerin Angela Merkel vom "Sanierungsfall Deutschland" gesprochen hat, fühlen sich die Genossen von der Regierungschefin um das politische Reformerbe von sieben Jahren Rot-Grün gebracht. Also keilte SPD-Fraktionschef Peter Struck jetzt zurück, Gerhard Schröder sei der bessere Kanzler gewesen. Das saß. Und als ob diese Revanche noch nicht ausreichte, fügte er hinzu, die Mehrwertsteuererhöhung 2007 - gegen die die SPD im Bundestagswahlkampf noch Front gemacht hatte - sei eigentlich unnötig. Der Göttinger Politikwissenschaftler Peter Lösche bewertet den Vorgang gegenüber unserer Zeitung so: "Das ist wie im Fußball: Da wird nachgehakt und nachgetreten und gerempelt." Pflichtgemäß schossen daher gestern die Ministerpräsidenten der Union zurück: Bei Schröder habe man nie gewusst, ob er "Politiker oder Schauspieler" gewesen sei, motzte zum Beispiel der Hesse Roland Koch. Die gegenseitigen Fouls haben aber nicht nur etwas mit Vergangenheitsbewältigung zu tun. Sie nehmen zu, weil die geplanten Reformen nur mühsam zu Stande kommen. Beide Seiten müssen bei Föderalismus oder Gesundheit Kompromisse eingehen, die für die eigenen Reihen schmerzhaft und zuweilen faul sind - in den Fraktionen führen die jeweiligen Spitzenkräfte derzeit einen ständigen Kampf mit den Unzufriedenen, wie zu hören ist. Von einem "hohen Frustpegel" unter den Abgeordneten ist die Rede. "Die Koalition ist eben in schwerem Wasser. Jetzt muss der Reformkanon gefunden werden", erklärt Lösche die schwarz-roten Gereiztheiten. Niemandem bleibt dabei verborgen, dass sich das öffentliche Stimmungsbild wandelt: Die Reformkoalition von einst mutiert im medialen Echo zum Teil schon zur Abkassierer-Koalition - das macht beide Seiten nervös. "Im Moment ist Dampf drin", beschreibt ein führender Sozialdemokrat die prekäre Lage des Bündnisses. Merkel sprach am Sonntagabend mit Struck über seine Äußerungen und bat ihn um Mäßigung. Bei der SPD kennt man allerdings das Naturell des Fraktionschefs: "Das war nicht die SPD, das war Struck, wie er leibt und lebt", unkt ein Genosse. Nicht jeder hat den Agenda-Kanzler Schröder schließlich verehrt. "Der Fraktionsvorsitzende weiß selbst, welche Interviews er gibt", übt sich SPD-General Hubertus Heil in diplomatischer Distanz. Sind die Reformen erst einmal auf den Weg gebracht, wird sich die Aufregung legen, glaubt man bei der SPD. Laut Parteienforscher Lösche hat Angela Merkel einen großen Fehler begangen: "Sie hat nicht dafür gesorgt, dass hinter verschlossenen Türen verhandelt wird", beschreibt der Experte das Dilemma der Koalition. Zu viele reden also mit und lassen öffentlich Versuchsballons steigen. So sind die Genossen in Wahrheit nicht allein über die Kanzlerin verärgert, sondern "uns stößt vielmehr Mister No auf", heißt es aus der SPD-Führungsetage. Gemeint ist der Bayer Edmund Stoiber (CSU): "Der sagt, was nicht geht, bevor wir in Berlin darüber reden", ärgert man sich im Willy-Brandt-Haus. Pendants zu Stoiber lassen sich wahrlich aber auch unter den Genossen finden.

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