Der Fußball in Geiselhaft

Paris · Streiks bedrohen die Fußball-EM, die in einer Woche in Frankreich beginnt. Für sechs von zehn Franzosen ist eine Störung des Sportereignisses durch die Gewerkschaften nicht hinnehmbar.

Paris. Philippe Martinez ist bekennender Fußballfan. Schon als Kind kickte der spätere Gewerkschaftsboss auf einer Wiese in Suresnes bei Paris. Doch seine Begeisterung für das Leder scheint der Chef der den Kommunisten nahestehenden CGT in diesen Tagen vergessen zu haben. Der schnauzbärtige Gegenspieler des sozialistischen Regierungschefs Manuel Valls ist bereit, für sein Ziel auch die EM zu gefährden, die in einer Woche in Frankreich beginnt. "Der Ball ist im Feld der Regierung", sagte er Ende Mai in schönster Fußballersprache in einem Fernsehinterview. Das heißt, dass seine Gewerkschafter, die aus Protest gegen das neue Arbeitsrecht Treibstoffdepots blockieren und die Bahn bestreiken, ihre Aktionen nicht wegen des Sportereignisses beenden werden. "Wir wollen, dass das neue Arbeitsgesetz zurückgezogen wird", fordert Martinez Tag für Tag.
Doch genau das wird wohl nicht passieren, denn Valls beharrt ebenfalls auf seinem Standpunkt. Und der lautet: die Liberalisierung des Arbeitsrechts, das künftig Vereinbarungen auf Betriebs- statt wie bisher auf Branchenebene erlaubt, wird durchgezogen. "Frankreich muss sich selbst zeigen, dass es reformfähig ist", sagte der Premierminister, Fußballfan wie Martinez, der Zeitung Journal du Dimanche. Es ist eine Machtprobe mit ungewissem Ausgang, die sich da zwischen den beiden so unterschiedlichen Männern abspielt.
78 Prozent der Franzosen rechnen laut einer am Donnerstag veröffentlichten Umfrage damit, dass die Streiks die EM stören, was für 61 Prozent nicht hinnehmbar wäre."EM sollte unantastbar sein"


Vier von fünf Franzosen sehen das Image ihres Landes durch die Protestbewegung beschädigt. "Sie sind der Meinung, dass die EM unantastbar sein sollte", sagte der Chef des Meinungsforschungsinstituts Elabe, Bernard Sananès, im Fernsehsender BFMTV.
Doch die Gewerkschaft Force Ouvrière, neben der CGT die zweite radikale Arbeitnehmervertretung, drohte bereits mit Streiks an jedem Spieltag. Schon jetzt leidet das Land unter den Aktionen der CGT: Der Bahnverkehr war am Donnerstag durch den Ausstand mehrerer Gewerkschaften stark beeinträchtigt, die ihren Streikaufruf bis zum Tag nach der EM aufrechterhalten wollenEbenfalls langfristig sind die Streiks in den Raffinerien angelegt, wo die CGT bis zur Rücknahme des Arbeitsgesetzes weitermachen will. Immerhin löste die Polizei vergangene Woche die Blockaden fast aller Treibstofflager auf, so dass die Tankstellen wieder mit Benzin versorgt werden konnten. "Eine kleine Minderheit kann das Land nicht als Geisel nehmen", sagte Sportminister Patrick Kanner. Das gelte vor allem vor einem sportlichen Großereignis wie der EM. Viele Mittel hat die Regierung nicht, um die Streiks und Protestaktionen zu beenden. Denn das Streikrecht gilt sowohl in Raffinerien als auch in den Atomkraftwerken, wo ebenfalls Arbeiter im Ausstand sind. Präsident François Hollande setzt im Konflikt mit der CGT deshalb auf Gesten für einzelne Berufsgruppen. So sagten die Fluglotsen einen für Freitag geplanten Streik ab, nachdem sie die Zusage erhalten hatten, dass keine Stellen abgebaut werden. "Die CGT weiß, dass sie nicht die Rücknahme des Gesetzes durchsetzen kann, aber sie soll Zugeständnisse in anderen Bereichen bekommen", zitierte das Journal du Dimanche einen Präsidentenmitarbeiter. Für die Gewerkschaft geht es bei dem Arbeitskampf auch ums eigene Überleben, denn sie droht in den Betrieben als größte Arbeitnehmervertretung von der moderaten CFDT abgelöst zu werden, die an einer Kompromissformel für das Arbeitsrecht mitgeschrieben hat.
Mitarbeiter des Präsidenten verweisen in diesen Tagen gerne auf das Jahr 1998. Damals herrschte in Frankreich, dem Gastgeber der Fußball-WM, ebenfalls Streik. Die Piloten von Air France waren in den Ausstand getreten, gefolgt von Angestellten der Bahn, des Nahverkehrs und der Energieriesen EDF und GDF. "Die WM wird normal verlaufen", versicherte die Regierung damals und hatte mit ihrer Prognose recht.Meinung

Unnachgiebig bleiben!
Seit dem 13. November ist klar, dass die EM in Frankreich mit einem Risiko verbunden ist. Doch zur Terrorgefahr kommt nun noch ein hausgemachter Konflikt, der das Fußballfest gründlich zu vermasseln droht. Die radikalen Gewerkschaften missbrauchen das Turnier als Bühne, um ihrem Protest gegen eine Liberalisierung des Arbeitsrechts Nachdruck zu verleihen. Die Mehrheit der Franzosen lehnt eine solche "Geiselnahme" ab. Denn wer täglich selbst Opfer der Streikaktionen wird, zeigt keine Solidarität mehr. Gestrichene Züge, leere Tankstellen und lahmgelegte Stromnetze: Die Gewerkschaften schlagen da zu, wo es besonders weh tut. Den Franzosen und auch den Touristen. Dass die Bilder von brennenden Barrikaden gerade vor der EM dem Land schaden, bestreitet keiner. Dass Frankreich sich reformieren muss, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, hat auch eine Mehrheit verstanden. Und dennoch blockiert eine Minderheit weiter das Land. Wie Kinder ihr Spielzeug wollen die Gewerkschaften ihre Besitzstände wahren. Doch nach zahlreichen Rückziehern in der Vergangenheit will die Regierung diesmal nicht nachgeben. Sie hat die einzig richtige Art gewählt, mit den Blockierern umzugehen - auch wenn die EM dadurch Schaden nehmen sollte. nachrichten.red@volksfreund.de

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