Der normale Instanzenweg

Was vor Gericht verhandelt und von Gerichten verkündet wird, treibt zuweilen kuriose Blüten. Manchmal aber ist das, was der Rechtsstaat seinen Bürgern zumutet, auch einfach unerträglich. Ein Lied davon singen kann die Familie, die in einem kleinen Dorf in der Eifel Tür an Tür mit einem Mann leben muss, der des sexuellen Missbrauchs angeklagt, dafür vor der Jugendkammer des Trierer Landgerichts verurteilt - und weiterhin auf freiem Fuß ist.

Man muss sich nur einmal in die Lage dieser Menschen versetzen: Tag für Tag werden sie mit einer Schandtat und ihrem Urheber konfrontiert, die das Leben der Familien massiv belasten. Es war sicher schwer genug, überhaupt das Schweigen über die Missbrauchsfälle zu brechen, und es gehört nicht viel dazu, sich vorzustellen, wie die Betroffenen dann darauf gewartet haben, dass der Beschuldigte quasi in Handschellen aus dem Gerichtssaal abgeführt werden würde. Nichts da - denn: Es besteht keine Fluchtgefahr. Also kann der Mann vor dem Wohn- oder Schlafzimmerfenster seines Opfers auf und ab flanieren und im Ort herumspazieren. Welch eine Erniedrigung für die Familie! Ins Unerträgliche verstärkt wird die Situation noch durch die Außenwirkung im Dorf: Wenn einer so unbehelligt und unbefangen durch den Ort gehen darf, was kann er da schon verbrochen haben? Da fehlen einem die Worte, und es wird nicht klar, was schlimmer ist: Diese infame Dorfkneipen-Logik oder die unsäglichen Auswirkungen, die der "normale Instanzenweg" für die Betroffenen hat. Und da sind wir genau am Punkt: Das Gericht ist über jeden Vorwurf erhaben, dass es mangelnde Flucht- oder Wiederholungsgefahr konstatiert und daraufhin die Haft außer Vollzug setzt. Und was wäre mit einer Beschleunigung des Verfahrens, um die Scham und das Leid der Betroffenen zu verkürzen? Das sieht er nicht vor, der "normale Instanzenweg". Er lässt sich nicht nötigen, unser Rechtsstaat. Und bleibt unter sich - unantastbar, erhaben über das, was in jenem kleinen Eifeldorf tagtäglich vorgeht und erlitten werden muss. Insofern können ihm die Opfer egal sein. Wie auch den Opfern die Antwort auf die Frage, was eigentlich im Kopf eines Richters vorgehen mag, der so Recht zu sprechen hat. m.pfeil@volksfreund.de

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort