Der Protest der Heimkinder trägt Früchte

Schikanen, Misshandlung, Zwangsarbeit: Das Schicksal Hunderttausender Heimkinder in den 1950er und 60er Jahren stellt ein unerledigtes Thema der bundesrepublikanischen Gesellschaft dar. Ein Runder Tisch geht dem Phänomen auf den Grund und diskutiert auch über Entschädigungen.

Berlin. Gefragt, was das wichtigste Zwischenergebnis des von ihr geleiteten "Runden Tisches Heimerziehung" sei, antwortet Antje Vollmer, Grünen-Politikerin und einstige Bundestagsvizepräsidentin: "Dass die Debatte in die Breite gegangen ist."

In etlichen Bundesländern und Kirchenbistümern haben sich analog zu der zentralen Berliner Kommission Kreise und Gruppen gebildet, die das Schicksal jener Menschen untersuchen, die in den 1950er und 1960er Jahren als Kinder und Jugendliche in Heime eingewiesen wurden.

Schikanen, Misshandlung, Zwangsarbeit, Willkür - je genauer das Heimsystem jener Zeit beleuchtet wird, umso tiefer sind die Abgründe, die sich auftun. Er habe sich nicht vorstellen können, "dass wir so etwas in unserer Geschichte der Diakonie mitschleppen", sagte etwa der Präsident des Diakonischen Werkes, Dieter Kottnik. 500 000 Menschen sind betroffen, schätzten Wissenschaftler der Ruhr-Universität bei ihrem Vortrag am Runden Tisch die Lage ein.

Das 21-köpfige Gremium aus Vertretern von Ländern, Kirchen, Sozialeinrichtungen und Betroffenen, das der Bundestag nach zahlreichen Petitionen von Geschädigten einsetzte, hat im ersten Jahr seiner Arbeit diese dunkle Vergangenheit wieder ans Tageslicht geholt, und zwar einvernehmlich. "Wir haben eine einheitliche Auffassung von dem Geschehen", sagt Volmer. "Das ist ein Riesensprung".

Eine Reise des Gremiums durch die schlimmsten bekannten Heime im November trug zur Aufklärung bei. Der Mut der Geschädigten, sich zu ihrer bislang oft verheimlichten Heimbiografie zu bekennen, ist überall deutlich gewachsen, die Info-Stelle bekommt viele persönliche Schilderungen. Auch der SPD-Politiker und langjährige Beauftragte der Bundesregierung für die deutsch-amerikanischen Beziehungen, Karsten D. Voigt, beschrieb dem Gremium seine Heimzeit in Hamburg. Vollmer lobt das "Wir-Gefühl" an Runden Tisch, und dass alle "wie auf Zehenspitzen" in die Gespräche gegangen seien. Mit großem gegenseitigen Respekt. Auch die drei Vertreter der Heimkinder, die von Anfang an dabei sind.

Das wäre fast anders gekommen, denn der "Verein ehemaliger Heimkinder" wechselte im Frühjahr nach heftigen Querelen seine Führung komplett aus und schaltete auf eine harte Linie. Bald präsentierten vom Verein beauftragte Anwälte die Forderung nach einem Entschädigungsfonds im Umfang von 25 Milliarden Euro. Doch Vollmer weigerte sich, die neuen Vertreter der Heimkinder und deren Anwälte am Runden Tisch zuzulassen. Sie wollte Aufklärung statt Konfrontation und ließ die Zusammensetzung so, wie sie seit Anfang Februar war. Übrigens trotz etlicher Regierungswechsel auch auf der Seite der Länder und des Bundes.

Im Januar stimmt das Gremium nun über einen 70-seitigen Zwischenbericht ab, der den bisherigen Stand der Ermittlungen festhält. In der Schlussphase geht es dann um das eigentliche Thema: Was folgt aus der Erkenntnis, dass so viele Menschen mitten in Deutschland, zu Zeiten der Demokratie und des Wirtschaftswunders, so gelitten haben?

Die im Juni angehörten Experten machten laut dem Sitzungsprotokoll klar, dass das Opferentschädigungsgesetz für diesen Personenkreis nicht greift. Und auch eine Anerkennung der Heimzeiten bei der Rente ist nach derzeitigem Recht nicht möglich. Der Runde Tisch könnte in seinem für Ende 2010 geplanten Schlussbericht an dieser Stelle Gesetzesänderungen fordern. Außerdem bleiben direkte finanzielle Entschädigungen auf der Tagesordnung. Allerdings dürften, falls es zu solchen Entschädigungszahlungen überhaupt kommt, die Größenordnungen erheblich niedriger sein, als es den Heimkindern vorschwebt. Vertreter der Zwangsarbeiterstiftung schilderten, dass selbst dieser Kreis im Durchschnitt nicht mehr als 2500 Euro pro Betroffenem bekam - für das unter Hitler erlittene Unrecht. Zudem ist es schwierig, genau zu ermitteln, wer einen Anspruch hätte, und noch schwieriger festzustellen, wer heute, 30 Jahre danach, als Rechtsnachfolger früherer Heimbetreiber zahlungspflichtig wäre.

Am Ende, so ist aus dem Gremium zu hören, geht es wohl weniger um Geld, sondern vielmehr um die immaterielle Anerkennung der Schicksale. Dazu gehörten Akteneinsicht und das Bekenntnis der "Täter" oder ihrer Nachfolger zu der Vergangenheit - und dazu gehören lokale Gesprächskreise und Selbsthilfegruppen. Viele Runde Tische eben, an denen das Tabu gebrochen wird.

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