Der schöne Schein

Fürs Erste ist das Experiment geglückt. Gerhard Schröder und Franz Müntefering vermochten ihre neue Rollen beim gemeinsamen Auftritt vor der Parteibasis in Nordrhein-Westfalen überzeugend zu spielen. Der künftige Nur-noch-Regierungsschef beschwor einmal mehr den großen Agenda-Rahmen. Sein Fraktionsvorsitzender und Parteichef in spe füllte ihn virtuos mit sozialdemokratischer Seele und zwiespältigen Erfahrungen des "kleinen Mannes". So war Müntefering der meiste Beifall gewiss. Aber das ist für Schröder kein Beinbruch. Im Gegenteil. Wenn sich die Genossen vor Ort damit in Schach halten lassen, profitiert der Niedersachse zu allererst. Frag sich nur, wie lange der schöne Schein das innerparteiliche Unbehagen überstrahlen kann.Schröder und Müntefering haben zwar unterschiedlich geredet, aber im Kern das Gleiche gesagt: Sie wollen keine Abstriche an den bereits beschlossenen Gesetzen zulassen und den Reformkurs unbeirrt beibehalten. Wenn dem wirklich so ist, dann dürfte der Streit um die soziale Gerechtigkeit bald wieder in aller Schärfe aufflammen.Die Verdoppelung der Krankenkassenbeiträge auf Betriebsrenten ist dabei nur ein Teil des Problems. Auch der demonstrative Schulterschluss konnte nicht verdecken, was der mitgliederstärkste Landesverband der Sozialdemokraten davon hält: rein gar nichts. Schließlich sind dessen Stammwähler überproportional davon betroffen. Sollten die NRW-Kommunalwahlen im Herbst schief gehen, steht der Buhmann schon fest: Es ist die eigene Vorhut in Berlin. Müntefering inklusive.Das um so mehr, als auch die anstehende Rentenreform noch für heftigen Wirbel sorgen dürfte. Bei der vorgesehenen Besteuerung müssen viele Betriebsrentner erneut mit Einschnitten rechnen, weil ihre Zusatzeinkünfte samt gesetzlicher Rente zum Fall für den Fiskus werden. Da nützt auch der politische Verweis auf verfassungsrichterliche Vorgeben wenig. Im Empfinden der Menschen handelt es sich um ein weiteres Abkassieren.Bei der Pflegeversicherung ist ebenfalls noch nicht das letzte Wort gesprochen. So ist die zusätzliche Belastung für Kinderlose noch nicht vom Tisch. Trotz gegenteiliger Beteuerung des Kanzlers.Selbst die absehbare Ausbildungsplatzabgabe ist nicht unbedingt ein Labsal für die sozialdemokratische Seele. Schließlich sollen die Betriebe nicht übermäßig darunter leiden. Auch daran haben Schröder und Müntefering keinen Zweifel gelassen. Ihr Auftritt in Bochum war sicher ein gelungener Start. Aber die Durststrecke ist noch lang. nachrichten.red@volksfreund.de

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