Detroit rollt näher an den Abgrund

Das einst so stolze Detroit, fünftgrößte Stadt der USA, steht vor seinem Niedergang. Nun muss die Automobil-Metropole mit dem Konkurs von General Motors einen weiteren Tiefschlag hinnehmen.

Detroit. Es riecht nach Müll, Moder, fauligem Wasser. Ein morbider Geruch, der für Carl Lowe zum Alltag gehört. Jeden Tag führt den 55-jährigen Techniker der Weg zur Arbeit die "East Grand Avenue" entlang. Vorbei an nicht enden wollenden, mit Graffiti verzierten Ruinen, in die sich nachts Obdachlose, Drogensüchtige und mit Haftbefehl Gesuchte zurückziehen. Medizintechniker Lowe, der im "Henry Ford"-Hospital arbeitet, rät dringend von einer Tour durch die Innereien der Nachbarschafts-Apokalypse mit dem ramponierten Werbe-Schriftzug ab, der einst verkündete: "Motor City Industrial Park".

Kein Bauwerk repräsentiert besser den Niedergang der einst so stolzen Automobil-Metropole Detroit als das frühere Packard-Fabrikgelände im Nordosten der Stadt. 325 000 Quadratmeter Produktionsfläche, 1903 feierlich eröffnet. Es galt damals, mit 80 dort angesiedelten Handwerkssparten, als modernste und innovativste Autofabrik der Welt. Hier entstanden einst die ersten kraftvollen 12-Zylinder-Motoren für die Karossen, die vor allem Amerikas obere Zehntausend liebten. Doch heute ist das Bauwerk nicht mehr als ein seit 1956 verfallendes Monstrum des industriellen Niedergangs. Die einst fünfgrößte Metropole der USA muss mit dem Konkurs von General Motors einen weiteren Tiefschlag hinnehmen. Und Carl Lowe, geboren und aufgewachsen in Detroit, plant wie viele Bürger den Abschied: "Ich habe keine Hoffnung mehr und werde wegziehen." Autokrise, Immobilienkrise, Jobkrise. Die derzeitige Rezession hat den schleichenden Verfall noch beschleunigt. 30 Prozent der Bauten - mehr als 44 000 Häuser - stehen leer. Und der markante und alles dominierende Glaspalast von General Motors könnte folgen - wenn der Konzern Ernst macht und die teuren Wolkenkratzer-Büros am Flussufer in den preiswerten Stadtteil Warren umsiedelt. Die Arbeitslosenquote liegt bei derzeit 23,2 Prozent, dreimal so hoch wie der Landesdurchschnitt. Seit den Ölkrisen von 1973 und 1979, die das Giganten-Trio GM, Ford und Chrysler erstmals ins Wanken brachten, haben 300 000 Menschen die Stadt verlassen. Von jenen, die blieben, lebt ein Drittel unter der jährlichen Einkommens-Grenze von 17 330 US-Dollar (rund 13 000 Euro) - und gilt offiziell als arm.

Doch statistische Werte verhüllen gnädig die Alltagsprobleme, mit denen sich die Bürger konfrontiert sehen. Schwelende Rassenkonflikte, eine alarmierende Kriminalitätsrate, eine korruptionsanfällige Verwaltung und die Frage, wie der nächste Supermarkteinkauf zu bezahlen ist, sind an der Tagesordnung. Nicht jeder hat das einstige Herz der US-Autoindustrie für tot erklärt, und einige steuern entschlossen gegen den Eindruck, dass Detroit wie ein bremsenloses Automobil immer näher an den Abgrund rollt. Doch Visionen kosten Geld. Ein Rettungspaket für Detroit? "Warum für die Fehler der anderen zahlen?" fragt das Magazin "Time". Die anderen - damit sind die Sorgenkinder der Stadt, die Automobil-Giganten, gemeint.

Viele suchen Trost im Gebet. Kirchen verzeichnen steigendes Interesse. Pfarrer Robert Dortch nahm am Sonntag die 60 Gläubigen ins Gebet. "Wir dürfen den Glauben nicht verlieren." Beten muss auch Erica Smith (53). Sie verkauft in einer Seitenstraße den Inhalt ihres Hauses, weil sie die Hypothek nicht mehr bezahlen kann, seit sie ihren Job bei einem Autozulieferer verloren hat. "Jeden trifft es hier, wenn es mit den Autobauern bergab geht. Wir sitzen alle in einem Boot."Hintergrund General Motors in Zahlen: General Motors (GM) zählt trotz drastischer Einschnitte noch immer zu den größten Autobauern weltweit. Mitarbeiter: bislang 235 000 weltweit, davon 88 000 in Nordamerika Werke: bisher 46 US-Fabriken, davon 15 Endfertigungen Verluste: 30,9 Milliarden Dollar (2008), 88 Mrd seit 2005 Absatz: 8,35 Millionen Autos (2008), minus elf Prozent

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