Deutschland wird zum Land der Frührentner

Berlin · In Deutschland gibt es immer mehr Menschen, die ihre gesetzlichen Altersbezüge vorzeitig beantragen und dafür empfindliche Abschläge in Kauf nehmen. Im Jahr 2011 betraf das fast jeden zweiten Neurentner. Über die Ursachen dieser Entwicklung gibt es bislang nur Vermutungen.

Berlin. Deutschland wird immer mehr zum Frührentnerland: Nach den neuesten verfügbaren Zahlen der Deutschen Rentenversicherung waren unter den knapp 700 000 Neurentnern im Jahr 2011 fast 337 000 Frührentner. Damit betrug ihr Anteil 48,2 Prozent. In Ostdeutschland waren es sogar rund 74 Prozent (West: 43,3 Prozent). Zehn Jahre zuvor fielen bundesweit nur gut 30 Prozent in diese Kategorie.
Die Frührentner gehen im Schnitt 36,3 Monate eher in den Ruhestand und müssen dadurch einen monatlichen Rentenabschlag von durchschnittlich 109 Euro in Kauf nehmen. Das sind etwa zehn Prozent der normalen durchschnittlichen Altersrente. Dabei wirken auch noch alte gesetzliche Regelungen nach, durch die zum Beispiel Frauen bis zum Geburtsjahrgang 1951 schon mit 60 Jahren in Rente gehen konnten - dann allerdings mit einem Abschlag von 18 Prozent.
Noch deutlich dramatischer ist die Situation bei den Erwerbsminderungsrenten. Von den gut 180 000 Menschen, die 2011 wegen gesundheitlicher Einschränkungen eine solche Rente bezogen, mussten 96 Prozent Abschläge hinnehmen. Sie betrugen im Schnitt 76,58 Euro monatlich. Das sind ebenfalls etwa zehn Prozent der vollen Erwerbsminderungsrente.
Von den gekürzten Altersrenten besonders betroffen sind laut Rentenversicherung ehemalige Beschäftigte im Dienstleistungssektor (75,4 Prozent), Glasmacher (71,5) und Chemiearbeiter (71,4 Prozent). Diese Statistik beruht allerdings zum Teil auf Angaben der Betroffenen über ihren zuletzt ausgeübten Beruf.
Ein Rentner, der zuletzt Verkäufer war, könnte demnach zuvor viele Jahre lang auch einen ganz anderen Job ausgeübt haben. Insofern lassen die Daten keine aussagekräftigen Schlüsse zu, etwa, ob körperlich schwere Tätigkeiten quasi automatisch zu einem früheren Renteneintritt führen.
Das System der Kostenbremse


Nach dem Gesetz kamen die Abschläge erstmals im Jahr 1997 zum Tragen. Durch die schrittweise Einführung der Rente mit 67 wird dieses System noch ausgebaut. Die Abschläge sind als Kostenbremse gedacht. Ansonsten würden die Menschen wegen ihrer zunehmend höheren Lebenserwartung auch immer länger eine ungeschmälerte Rente beziehen - was die Versicherungsbeiträge stark ansteigen lassen würde. Durch die Abschläge wird die Rente praktisch auf eine längere Laufzeit verteilt.
Aus Sicht der Gewerkschaften halten die Arbeitsangebote mit der gesetzlich verlängerten Lebensarbeitszeit nicht annähernd Schritt. "Die Tatsache, dass es fast die Hälfte der Arbeitnehmer nicht schafft, bis 65 Jahre zu arbeiten, ist ein deutlicher Beleg dafür, dass die Arbeitsbelastungen viel zu hoch sind und die Rente mit 67 unerreichbar ist", sagte DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach unserer Zeitung.
Dass ältere Arbeitnehmer wegen Stress oder Erschöpfung vorzeitig in Rente gehen, bestreitet auch Hilmar Schneider vom Bonner Institut zur Zukunft der Arbeit nicht. Allerdings sei das nur die halbe Wahrheit, so Schneider gegenüber unserer Zeitung. "Es gibt auch Menschen, die schlicht keine Lust mehr haben und sich dabei auch von einem geringeren Rentenspruch nicht abschrecken lassen." Hinzu kämen jene, die Vermögen angehäuft hätten und sich den vorzeitigen Abschied vom Job leisten könnten. "Der Anteil dieser Gruppe dürfte viel höher liegen als in der politischen Wahrnehmung diskutiert", vermutet Schneider. "Schon der Besitz einer Immobilie ist da ein geldwerter Vorteil, weil keine Miete anfällt."
Über die persönlichen Motive, trotz Abschlägen vorzeitig in Rente zu gehen, gibt es noch keine wissenschaftlichen Untersuchungen.

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