Die Armut in Deutschland wächst

Vom neuen Armutsbericht der Bundesregierung fühlten sich gestern scheinbar alle Parteien und Verbände in ihren Forderungen bestätigt. Die Sozialdemokraten setzen weiter auf Mindestlöhne, CDU und CSU auf mehr Wachstum und die Wohlfahrtsorganisationen auf eine Erhöhung der Hartz-IV-Sätze von 347 auf 420 Euro. Von letzterem will Arbeitsminister Olaf Scholz allerdings nichts wissen.

Berlin. Im Berichtsentwurf, den der SPD-Politiker gestern vor der Presse erläuterte, heißt es dazu: Die Politik könne sich nicht in der Sicherung von Grundbedürfnissen erschöpfen. Dauerhafte Abhängigkeit von staatlicher Fürsorge führe nur "zur Verfestigung von Armut". Entscheidend seien vielmehr Angebote für Betreuung und Bildung, um die Betroffenen zu befähigen, "mit einer angemessen entlohnten Erwerbstätigkeit so weit wie möglich vom Bezug von Transferleistungen unabhängig zu werden". Scholz hatte die Öffentlichkeit auf die wachsende Schere zwischen Oben und Unten im Land eingestimmt. Demnach lebte 2005 jeder achte Deutsche (13 Prozent) in Armut. Im Jahr zuvor waren es noch zwölf Prozent. Als arm gilt, wer als Alleinlebender weniger als 60 Prozent eines mittleren Einkommens (781 Euro netto) zur Verfügung hat. Ohne Sozialtransfers (Hartz IV, Wohn- und Kindergeld) würde sich der Anteil der Armen verdoppeln.Zur Lage der Rentner vermerkt der Bericht: Altersarmut sei "kein aktuelles Problem". Ende 2006 bezogen 2,2 Prozent der Senioren die sogenannte Grundsicherung im Alter. Im Osten lag der Anteil der Hilfsempfänger über 65 lediglich bei 1,1 Prozent.

Scholz nannte drei Problemgruppen, die am meisten von Armut gefährdet sind: Langzeitarbeitslose, Alleinerziehende sowie Menschen mit schlechter schulischer und beruflicher Qualifikation. Laut Bericht liegt das Armutsrisiko bei den Arbeitslosen mit 43 Prozent am höchsten. Auch Normalverdiener müssen den Gürtel enger schnallen. So gingen die durchschnittlichen Jahresbruttogehälter nach Angaben des Berichts zwischen 2002 und 2005 von 24 873 auf 23 684 Euro zurück. Das ist ein Minus von 4,7 Prozent. Besorgniserregend sei die Zunahme der Beschäftigten im Niedriglohnbereich. Für 2005 registriert der Bericht jeden dritten Arbeitnehmer in diesem Sektor. Anfang der 1990er Jahre sei es etwa jeder Vierte gewesen. Andererseits lag die Gesamtzahl der Erwerbstätigen im Februar 2008 bei rund 40 Millionen und damit so hoch wie noch nie in einem Februar. Scholz führt das auf die Arbeitsmarkt-Reformen zurück. Dadurch hätten sich der Wirtschaft "flexible Möglichkeiten eröffnet, um mehr Menschen in Arbeit zu bringen".

Es werden auch "Fehlentwicklungen" beklagt. Ein Beispiel sei die Leiharbeit, "wo Arbeitgeber Teile ihrer Stammbelegschaft ersetzen und keine gleichen Löhne gezahlt werden". Der Mindestlohn stellt nach Einschätzung von Scholz dann auch ein "wichtiges Programm zur Reduktion der Armut dar". Rund zwei Millionen Vollzeitbeschäftigte lägen mit ihrem Verdienst unter dem vom DGB geforderten Mindestlohn von 7,50 Euro pro Stunde. Das seien etwa 15 Prozent der Arbeitnehmer. Der Minister verwies demgegenüber auf den in Großbritannien geltenden Mindestlohn von etwa acht Euro, von dem dort aber nur 1,9 Prozent der Beschäftigten leben müssten. Fazit von Scholz: "In Deutschland haben wir es mit einer Sonderentwicklung zu tun." Die Union bekräftigte derweil ihre Ablehnung einer einheitlichen Lohnuntergrenze. Ein "flächendeckender Mindestlohn vernichtet nur Arbeitsplätze", meinte CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla.

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