Die Gesellschaft entdeckt die Opfer

Brüssel/Trier · Rund 75 Millionen Menschen werden jedes Jahr in der Europäischen Union Opfer eines Verbrechens. Während die Täter, entsprechend den rechtsstaatlichen Grundsätzen, Anspruch auf eine korrekte Behandlung haben, sind die Rechte der Opfer kaum definiert. Die EU macht sich daran, das zu ändern.

Brüssel/Trier. Mit der EU verbinden viele Bürger Bürokratie und Gängelung, aber nicht unbedingt den Ausbau von Bürgerrechten. Ein Bild, an dessen Korrektur die Luxemburger EU-Kommissarin Viviane Reding schon lange arbeitet. Ihr neuestes Großprojekt, für das sie in der Europäischen Rechtsakademie in Trier intensiv warb, verpflichtet die Staaten und ihre Justizapparate in einem sehr sensiblen Bereich zu mehr Bürgerfreundlichkeit.
Es geht um Kriminalitätsopfer, die - nicht nur nach Redings Auffassung - oft das fünfte Rad am Wagen sind. Die europäische Rechtstradition ist stark auf den Täter ausgerichtet. Der Staat versucht, ihn zu ermitteln, zu bestrafen und zu resozialisieren. Seine Rechte sind klar definiert, ihre Verletzung ist einklagbar.
Experten sehen Nachholbedarf


Im Verfahren Staat gegen Täter spielen das Opfer und seine Angehörigen nur eine Nebenrolle. "Da gibt es großen Nachholbedarf", sagt die Geschäftsführerin des Weißen Rings in Trier, Waltraud Krämer. Jahrelange Verfahren, die die Opfer immer wieder mit der Tat konfrontieren, zu wenig Fingerspitzengefühl im Umgang, ein wahrer Hindernislauf zur Entschädigung: Gerade Opfer von Gewaltdelikten, die eine immer größere Rolle spielen, empfinden das juristische Verfahren als eine weitere Tortur nach der eigentlichen Tat.
Genau da setzt das Maßnahmenpaket der EU an. Intimsphäre und Integrität der Opfer sollen während des gesamten Rechtsverfahrens geschützt werden. Das Personal bei Polizei und Justiz muss entsprechend geschult werden. Geschädigten steht emotionale und psychologische Unterstützung durch Fachleute zu, umfassende praktische Hilfe im unmittelbaren Umgang mit den Tatfolgen und langfristige professionelle Hilfe bei der Bewältigung.
Ein zentraler Punkt ist die Stärkung von Mediations- und Wiedergutmachungsmaßnahmen. Viviane Reding ist sicher: "Wenn das vernünftig gemacht wird, können Opfer davon nachhaltig profitieren".
Das freut Organisationen wie die Trierer AG Starthilfe. Sie kümmert sich über ihre "Unterabteilung" Handschlag e.V. um den Täter-Opfer-Ausgleich (siehe Extra) in der Region.
"Die gesetzlichen Grundlagen sind ausreichend", lobt Starthilfe-Geschäftsführerin Rita Alexas. Aber sie wünscht sich mehr Vertrauen seitens der Staatsanwälte, die über die frühzeitige Einleitung eines Ausgleichsverfahrens entscheiden. Kleinere Fälle gebe die Anklagebehörde gerne ab, "aber die größeren traut man uns Pädagogen offenbar nicht zu".
Den Täter-Opfer-Ausgleich hält auch der Weiße Ring für ein wichtiges Element. Auch sonst sind sich die Experten vor Ort in der Region und die EU-Kommission einig: Die Besserstellung der Opfer und der Resozialisierungsanspruch der Täter sollten nicht gegeneinander ausgespielt werden. Täterarbeit, sagt Waltraud Krämer, sei "ein ganz großer Teil Opferschutz". Täter einfach nur wegzusperren, sei der falsche Weg. Vielen müsse "der Schaden, den sie anrichten, erst bewusst gemacht werden".
Dass Europa auf diesem Weg vorangeht, findet sie gut. Nicht zuletzt, weil die Rechtslage in den unterschiedlichen Ländern angeglichen werden soll. Denn, so ist ihre Erfahrung, "hier bei uns im Dreiländereck spielt die grenzübergreifende Kriminalität immer wieder eine große Rolle".
Das Strafgesetzbuch eröffnet in Deutschland die Möglichkeit, ergänzend oder sogar als Ersatz für ein Strafverfahren eine außergerichtliche Einigung von Täter und Opfer herbeizuführen. Voraussetzung ist Freiwilligkeit von beiden Seiten. Ausgeschlossen ist sie bei schweren Verbrechen wie Mord, Totschlag und Vergewaltigung. Der Täter kann durch tätige Reue eine Einstellung des Verfahrens oder eine Milderung der Strafe erreichen. Er wird gezwungen, die Perspektive des Opfers wahrzunehmen. Das Opfer kommt aus seiner Opfer-Rolle heraus, kann eine aktive Position einnehmen und erhält als Nebenwirkung eine Entschädigung durch den Täter. Ziel des Täter-Opfer-Ausgleichs ist eine verbindliche, von einer neutralen Stelle kontrollierte Vereinbarung. Die Vermittlung kann zu jeder Zeit des Verfahrens von Staatsanwaltschaft oder Gericht vorgeschlagen werden. DiL

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