Die große Europa-Krise: Haben die Eliten versagt?

Brüssel · Nationale Interessen, anti-europäische Abstimmungen, Ratlosigkeit: Die EU steckt in einer tiefen Krise. Unser Korrespondent Markus Grabitz zeigt in einer Analyse auf, woran es in Europa hakt - und warum die EU trotzdem eine Zukunft haben kann.

Dieser Tage in Brüssel: Ein gestandener Europapolitiker nimmt Abschied, Weggefährten sind eingeladen. Bevor er das Buffet eröffnet, sagt er Sätze, die seinen Gästen den Appetit verderben. "Wir sind nur noch drei Wahlen vom Ende der Demokratie entfernt." Kurze Pause. "Das geht ganz schnell: Die Engländer stimmen im Juni für den Austritt des Landes aus der EU, die Amerikaner wählen Donald Trump zum Präsidenten, und Marine Le Pen gewinnt auch noch die nächste französische Präsidentschaftswahl." Betretene Gesichter. Schon klar, der Mann leidet unter Nachwahldepression. Obwohl erst Mitte 40 steht er politisch vor dem Aus. Die Landtagswahlen im März haben ihn heraus katapultiert. Aber, so ganz allein ist er nicht mit seinem Blues. Frust in Europa haben auch andere.

Anti-Europäer übernehmen die Kontrolle

Die Lage ist so bedrückend, dass sich neuerdings langgediente Beamte der Kommission Sorgen um ihre Pension machen. Und darüber reden. "Wer zahlt noch meine Rente, wenn sich der ganze Laden hier auflöst?" fragt einer. Eine Österreicherin, die Jahrzehnte für die Kommission gearbeitet hat, sagt: "Der Frust bei den Mitarbeitern ist groß." Immer mehr Arbeit, nur neue Stellen gebe es nicht. Gelinge es dem Chef doch, eine zu schaffen, dann müsse im Gegenzug in einer anderen Abteilung eine wegfallen. "Ich gehe bald in Pension," sagt sie, "ich würde aber keinem jungen Menschen heute raten, bei der EU Karriere zu machen." Endzeitstimmung? Nicht ganz, bleiern liegt aber über dem Europa-Viertel die Tristesse.

Die, die sich als Pro-Europäer verstehen, wissen: Die Lage ist ernst. Die desaströs verlaufene Volksabstimmung in den Niederlanden hat allen noch einmal in Erinnerung gerufen: Wann immer irgendwo in Europa das Volk über eine europapolitische Frage abstimmt, geht es schief, setzen sich die Anti-Europäer durch. Was besonders schmerzt: Die Gegner der europäischen Idee nutzen die Instrumente der EU, um sie zu zersetzen. Die AfD, die britische Ukip, der Front National, sie alle haben ihre Abgeordneten im Europaparlament. Das Geld von Europa nehmen sie gern, um ihre Mitarbeiterstäbe zu bezahlen. Der Zorn richtet sich nicht nur auf Europa. Auch andere "da oben" ernten Unverständnis, werden abgelehnt. Aber Europa bekommt am meisten ab. Nichts ätzt so stark wie Kritik an "Brüssel".

"Club der Egoisten"

Woran liegt dieser geballte Verdruss? Versagen die Eliten? Warum überzeugen sie immer weniger Menschen für Europa? Fragt man Europa-Politiker nach den Ursachen, so hört man erst einmal Selbstkritik: "Die Europäer sind zu bequem und arrogant geworden, wir kämpfen zu wenig, die Gegner sind agiler", sagt etwa der Saarländer Jo Leinen. Der Kölner Unionspolitiker Herbert Reul, der die CDU-Abgeordneten im Europaparlament anführt, sieht es ähnlich: "Es war ein riesiger Fehler, die AfD links liegen zu lassen. Man muss sich mit denen streiten."

Ein Sozialdemokrat gibt zu bedenken, "die EU hat den Menschen seit fast zehn Jahren kaum mehr Gutes geliefert." Im Hinblick auf sozialen Fortschritt seien beide Amtszeiten des vorherigen EU-Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso (2004 bis 2014) "der pure Ausfall" gewesen, sagt Udo Bullmann, Chef der SPD-Abgeordneten im Europa-Parlament. Der Zeigefinger geht aber auch Richtung der Hauptstädte der 28 Mitgliedsstaaten. "Das ist ein Club der Egoisten" geworden, kritisiert Reul. Bei den großen Krisen - Griechenland und Flüchtlinge - hätte Europa eine schlechte Figur gemacht, weil die Regierungschefs die eigenen Interessen verfolgt haben. Von Solidarität keine Spur. Kritik üben die deutschen Europapolitiker auch am deutschen Politikbetrieb. "Die Berliner Republik ist sich selbst genug", sagt der hessische Abgeordnete Bullmann. Manche Politiker im Bundestag würden immer wieder selbst Europa-Bashing betreiben. Erfolge würden für die nationale Politik reklamiert. Und alles, was nicht klappt, komme dann eben aus Brüssel. Außerdem: "Die Parteien schicken nicht ihre erste Garde nach Brüssel und Straßburg." Das machten andere Länder besser. "Wenn anderswo in Europa eine Partei die Macht verliert, rotiert das Chefpersonal von Portugiesen, Dänen und Finnen erst einmal nach Brüssel." Auch so wachse Verständnis für Europa.

Die Begeisterung fehlt
Begeisterung für Europa? Damit geht es ja schon los. Bei dieser Frage ist tiefe Verunsicherung zu spüren. Die Europapolitiker wissen nicht mehr, mit welcher Idee sie für Europa begeistern sollen. Früher war es einfacher. Für alle, die noch die Nachkriegsjahre erlebt haben, gehörte es zur politischen DNA, für die EU-Mitgliedsschaft zu sein. Es darf nie wieder Krieg zwischen Deutschland und Frankreich geben, das war weit verbreitetes Selbstverständnis. Die 70er und 80er Jahre waren die besten Zeiten für Städtepartnerschaften. Da saßen Deutsche plötzlich im Wohnzimmer bei einer französischen Familie. Meist war man sich sympathisch. Das ist vorbei. Alle, die in den 80er Jahren und später geboren sind, kennen nur noch ein Europa ohne Grenzen. "Den Jungen dürfen Sie damit nicht mehr kommen. Das ist für die, als würde Opa vom Krieg erzählen", meint Reul.

Wo ist er, der Gründungsmythos im osterweiterten Europas? Der Abgeordnete Bullmann glaubt, dass man die Jungen sehr wohl begeistern könne. Die 20-, 30-Jährigen lebten doch in ihrem Freizeitverhalten begeistert Transnationalität. "Italiener und Spanier steigen in den Billigflieger zum Abtanzen für ein Wochenende in Berlin." Dieses Lebensgefühl sei zutiefst europäisch. Es funktioniere nur, weil Europa keine Grenzen mehr habe. Das müsse viel stärker angezapft werden. Fast jeder, der studiert hat, sei mit dem von der EU geförderten "Erasmus"-Stipendium für ein halbes Jahr ins EU-Ausland gegangen. Mit Erasmus waren aber nur die Studenten unterwegs. Wer studiert hat ist ohnehin nicht so anfällig für Europaskepsis. Das wäre ein konkreter Ansatz: Erasmus soll es künftig auch für Lehrlinge geben. Die Ausweitung droht aber am Geld zu scheitern. Bullmann klagt: "Jedes Jahr müssen wir uns mit den Finanzministern um die Mittel für Erasmus prügeln."

Was tun? Zeigen, wo die EU das Leben beeinflusst

Vielleicht geht das auch gar nicht mehr, Pathos für Europa. Dann muss man eben den Menschen besser erklären, dass Europa weite Teile ihres Alltags bestimmt. Der Kölner Reul nimmt junge Leute an die Hand und läuft mit ihnen durch die Fußgängerzonen ihrer Heimatstädte: "Jeder kapiert, dass nur die EU die Abzocke mit den Roaminggebühren bei den Handys beendet hat." Die EU habe auch dafür gesorgt, dass Fluggäste bei Ausfall oder Verspätung entschädigt werden. Die Spielzeugrichtlinie halte schadstoffbelastete Plüschtiere fern von Kleinkindern. "Diese Vorzüge muss man den Menschen mehr erklären."

Europapolitik? Die wird doch nur von Technokraten gemacht. Ein verbreitetes Klischee. Das aber viel darüber aussagt, warum sich Europapolitik schwer vermitteln lässt. Wir leben in einer Zeit, in der Fernsehbilder wichtig sind. Politik lebt von der Visualisierung. Jeder erfolgreiche Politiker benutzt Fotos, um seine Macht zu dokumentieren. Nur: Europäische Politik hat kaum Gesichter. Selbst politisch Interessierte können aus dem Stand kaum fünf Namen von Europaabgeordneten aufzählen.

"Eigentlich ist die Flüchtlingsfrage ein Geschenk"

Dabei haben erst die Erfolge von Malu Dreyer und Winfried Kretschmann jüngst noch einmal unter Beweis gestellt, dass die Persönlichkeit von Politikern immer wichtiger werden. Gewählt werden immer mehr die Menschen, nicht die Parteien. Eine Ausnahmeerscheinung in Brüssel ist da der SPD-Politiker Martin Schulz aus Aachen. Er ist bekannt. Ihm ist es als EU-Parlamentspräsident gelungen, ein markantes Profil aufzubauen. Davon bräuchte Europa mehr. Eigentlich müsste Schulz bald seinen Posten als Parlamentspräsident abgeben. Kein Wunder, schon wird in Brüssel geraunt, er solle Verlängerung bekommen.

Man muss ihnen eins lassen, den Pro-Europäern: Sie stehen massiv im Wind, Resignation macht sich aber nicht breit. Im Gegenteil. Reul spornt die viele Kritik eher an. Als er vor zehn Jahren angefangen habe in Brüssel, habe sich "doch keine Sau für Europa interessiert", bekennt er. "In meinen Versammlungen waren nur die, die ohnehin kommen mussten." Das ist heute anders. Jetzt kommen manchmal 80 bis 100 Leute. Die Flüchtlingskrise politisiere die Menschen plötzlich wieder. Klar, er bekomme viel Wut ab. Er wirbt dann für eine europäische Lösung. Reul sieht in der Krise eine Chance: "Eigentlich ist die Flüchtlingsfrage doch ein Geschenk." Die Politik sei gefordert, die EU neu zu positionieren und zu zeigen, dass die Europäer Probleme lösen können. Ob das klappt?

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