Die Grünen und die "Grenzen des Machbaren"

Halle · Nach dem Parteitag sehen sich die Realos bei den Grünen gestärkt. Mit drei Vierteln der Stimmen wird Özdemir erneut an die Spitze gewählt. Die Parteilinke Peter erhält einen Dämpfer. Das Duo will mit knallgrünen Themen punkten.

Halle. Durch mehr als 500 Änderungsanträge hatten sich die Delegierten bereits durchgekämpft, da wurde es noch einmal ganz grundsätzlich: Zur Abstimmung stand ein Vorstandspapier mit der Überschrift "Geschlechtergerechte Sprache in Anträgen". Gemeint waren nicht nur schlechthin "Frau" und "Mann", sondern auch jene, die sich sozusagen als Zwischenwesen fühlen. "Um sicherzustellen, dass alle Menschen gleichermaßen genannt und dadurch mitgedacht werden, wird in unseren Beschlüssen ab jetzt der Gender-Star benutzt", hieß es in der Vorlage. Aus "BürgerInnen" mach also ab sofort "Bürger*innen". Was das soll? Eine Aussprache war nicht gewünscht - der Antrag ging mit überwältigender Mehrheit durch.
So viel Harmonie herrschte längst nicht immer in den vergangenen drei Tagen. Islamistischer Terror, Flüchtlingselend - das hat den Bundesparteitag der Grünen in Halle an der Saale kräftig durcheinander gewirbelt. "Ich kann es auch nicht mehr hören, wenn der eine oder andere Islamvertreter quasi ritualisiert erklärt: Das alles hat nichts mit dem Islam zu tun", donnerte Grünen-Chef Cem Özdemir mit Blick auf die Gewalttaten des IS. So glasklar hatte man das bei Grüns noch nicht gehört. Genauso wenig wie das Bekenntnis, "dass nicht alle, die in Deutschland Asyl beantragen, auch bleiben können". Wer nun allerdings meinte, die Grünen würden in der Terror- und Flüchtlingsproblematik eine Wende um 180 Grad vollziehen, der sah sich getäuscht. Sämtliche Beschlüsse und auch viele Debattenbeiträge dazu glichen einem Spagat zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Solidarität mit Frankreich ja, aber militärischer Beistand besser nicht. Hände weg vom Grundrecht auf Asyl, aber an den "Grenzen des Machbaren" sei man schon angelangt, wie Winfried Kretschmann, der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg betonte.
Auch die Ergebnisse der turnusmäßigen Vorstandswahlen boten ein eher diffuses Bild. Gleich mehrfach hatte Özdemir zu den verschiedensten Themen das Wort ergriffen. Stets wirkte der "anatolische Schwabe" (Özdemir über Özdemir) dabei kämpferisch und mitreißend. Und jedes Mal bekam er starken Applaus. Doch die knapp 77 Prozent, die Özdemir am Ende bei seiner Wiederwahl bekam, bedeuteten nur eine leichte Verbesserung gemessen am Votum des Jahres 2013. Dabei könnte den Grünen mit dieser Spitzenpersonalie angesichts der aktuellen Ereignisse nichts Besseres passieren - schließlich ist Özdemir, dessen Eltern vor fünf Jahrzehnten aus der Türkei nach Deutschland kamen, das personifizierte Beispiel für eine gelungene Integration.
Offenkundig hatte das etwas enttäuschende Resultat mit der grünen Flügelarithmetik zu tun. Özdemirs Co-Chefin Simon Peter, die sich dem Votum der Delegierten zuerst stellte, kam lediglich auf 68 Prozent der Stimmen - eine Verschlechterung um fast acht Prozent gegenüber 2013. "Das lag an den Realos", hieß es hinterher beim linken Flügel, auf dessen "Ticket" Peter läuft. Bei den Realos wiederum, die von Özdemir repräsentiert werden, gab man den Ball zurück. Immerhin hatte eine völlig unbekannte Gegenkandidatin Peters fast 18 Prozent der Stimmen eingeheimst. "Die Linken waren zersplittert", schlussfolgerte ein Özdemir-Anhänger.
Wie dem auch sei, die Ergebnisse sind nicht unerheblich für die Bewerbung um die grüne Spitzenkandidatur bei der nächsten Bundestagswahl. Fraktionschefin Katrin-Göring Eckardt und ihr Co-Vorsitzender Anton Hofreiter haben dafür bereits ihren Hut in den Ring geworfen.
Genauso wie Schleswig-Holsteins Umweltminister Robert Habeck. Auch Peter und Özdemir werden solche Ambitionen nachgesagt.Meinung

Zwischen allen Stühlen
Alles könnte so schön grün sein. In der kommenden Woche beginnt die Weltklimakonferenz in Paris. Der Abbau umweltschädlicher Emissionen und der Ausbau erneuerbarer Energien - das ist die politische Paradedisziplin der Grünen. Nur steht Paris derzeit für ganz andere Probleme. Islamistische Gewalt, Angst vor Sicherheitslücken und ein weitverbreitetes Unbehagen gegenüber den Flüchtlingsströmen dominieren das Bild. Und daran dürfte sich so schnell nichts ändern. Dumm für die Grünen. Denn auf diesen Feldern wird ihnen kaum Lösungskompetenz zugemessen. Sicher, wer sich daran erinnert, wie unbekümmert die Grünen auf Multikulti machten, "offene Grenzen für alle" predigten und eine Verpflichtung von Asylsuchenden zum Erlernen der deutschen Sprache als "Zwangsgermanisierung" abqualifizierten, der muss sich die Augen reiben, was inzwischen zur Beschlusslage der einstigen Protestpartei gehört: Der Ruf nach mehr Polizei zum Beispiel und die Erkenntnis, "dass nicht alle, die in Deutschland Asyl beantragen, auch bleiben können". Nur sind solche Punkte längst politisches Allgemeingut. Und deshalb sitzen die Grünen zwischen allen Stühlen. Teile der eigenen Klientel fühlen sich irritiert. Und dem großen Rest geht der Sinneswandel längst nicht weit genug. Da wird es schwer, neue Wähler zu werben. Genau die braucht es aber, sollen die Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt im kommenden Frühjahr nicht verloren gehen. nachrichten@volksfreund.de

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