Die "Hirngespinste" verdichten sich

BERLIN. Als vor genau einem Jahr das Gerücht die Runde machte, die Bundesregierung plane eine Erhöhung der Mehrwertsteuer, sprach Finanzminister Hans Eichel von "Hirngespinsten". Jetzt könnten die "Hirngespinste" ernst werden.

Als im vergangenen Herbst das Thema Mehrwertsteuer-Erhöhung mit dem Zusatz "geheime Gespräche" kolportiert wurde, durfte Eichels Sprecher Stefan Giffeler energisch dementieren. Die aktuellen Gedankenspiele des CDU-Finanzexperten Friedrich Merz, der eine "Verlagerung von den direkten zu den indirekten Steuern nicht tabuisieren" will, haben jetzt abermals für die bekannten Kommentare gesorgt. Allerdings könnte es langsam ernst werden mit der Erhöhung der "Umsatzsteuer". Je mehr Politiker offen aussprechen, was viele denken, umso wahrscheinlicher wird der Schritt kommen, den auch der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin, Klaus Zimmermann, seit langem fordert: "Wäre die Politik dem gefolgt", sagte Zimmermann im Oktober 2003 in einem Interview, "so hätte sie sich viele qualvolle und nutzlose Debatten sparen können". So ist es. Insgeheim schielen sie nämlich alle nach der Mehrwertsteuer, die in Deutschland vergleichsweise niedrig ist (16 Prozent), und die auf unkomplizierte Weise viel Geld in die leeren Staatssäckel von Bund und Ländern spülen könnte. Doch trauen tun sie sich eben nicht: Das Volk, so fürchten die Volksvertreter, könnte allergisch reagieren und den Befürwortern dieser Maßnahmen endgültig das Vertrauen entziehen. Deshalb wird um den heißen Brei herum geredet, obwohl eine Mehrwertsteuer-Erhöhung mehrere Probleme auf einmal lösen würde. Einmal könnte die seit Jahren diskutierte "große Steuerreform", insbesondere die als notwendig erachtete Steuervereinfachung, finanziert werden. Zum Zweiten könnte das ebenfalls erforderliche Projekt der Reform der sozialen Sicherungssysteme - zahlreiche versicherungsfremde Leistungen werden systemfremd von den Beitragszahlern erbracht - angegangen werden. Dies fordern seit langem schon die Ministerpräsidenten Wolfgang Böhmer (Sachsen-Anhalt) und Peter Müller (Saarland). Müller ist auch "felsenfest davon überzeugt", dass dieses Thema "über kurz oder lang" auf die Tagesordnung kommt. Ungeachtet der Sozialproblematik können die meisten Länder aufgrund ihrer desaströsen Finanzlage aber einer radikalen Steuerreform nur dann zustimmen, wenn es an anderer Stelle einen Ausgleich gibt - eben die Mehrwertsteuer. Gleichwohl ist der Vorstoß von Merz wie erwartet auf Protest gestoßen. Solche Überlegungen trügen zu einer weiteren Verunsicherung der Bevölkerung bei, sagte der stellvertretende FDP-Vorsitzende Rainer Brüderle. Gerade in der jetzigen Situation sei dieses "Gerede" mehr als schädlich, weil es die konjunkturelle Erholung lähme. Scharfe Kritik kam auch aus Reihen der SPD. Deren Finanzexperte Joachim Poß warf Merz vor, mit einer höheren Mehrwertsteuer "die Entlastung von Spitzenverdienern" betreiben und das CDU-Steuerkonzept, das zu jährlichen Einnahmeausfällen von rund 30 Milliarden Euro führen würde, "retten" zu wollen. SPD-Generalsekretär Olaf Scholz meinte, die CDU-Vorsitzende Angela Merkel habe offenbar "jede Kontrolle über den eigenen Laden verloren". Merkel hatte kürzlich die Mehrwertsteuer-Thesen ihres Parteifreundes Peter Müller als "Einzelmeinung" zurückgewiesen. Auch die Grünen positionieren sich klar gegen eine höhere Umsatzsteuer. Nach der Haushälterin Antje Hermenau, die vor allem aus konjunkturpolitischen Gründen dagegen votiert, lehnte am Dienstag auch der Parteivorsitzende Reinhard Bütikofer das Ansinnen ab. Eine Mehrwertsteuererhöhung hätte eine zu starke "Verteilungswirkung zu Ungunsten der unteren Einkommen" zur Folge.

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