Die Koalition schrammt knapp am Bruch vorbei

Berlin · Die dramatischen Verhandlungen über den Nachfolgekandidaten für den zurückgetretenen Bundespräsidenten Christian Wulff haben Schwarz-Gelb in die Zerreißprobe geführt. Am Tag nach der Gauck-Nominierung wird klar: Die Koalition stand kurz vor dem Bruch.

Berlin. Schadenbegrenzung war gestern das Gebot der Stunde. Politiker von Union und FDP versuchten den tiefen Riss, der am Sonntag zwischen ihnen um die Nominierung von Joachim Gauck für das Präsidentenamt entstanden war, etwas zu kitten. CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe riet dazu, "nicht öffentlich nachzukarten", man müsse sich jetzt um Energiewende und Euro kümmern. Und sein FDP-Gegenüber Patrick Döring sagte, es sei ein "ein ganz normaler Prozess", wenn man für unterschiedliche Persönlichkeiten sei.
Doch hinter vorgehaltener Hand wurde eingeräumt, dass der Streit noch nachhallen werde. Bei der FDP gab es die Sorge, dass die CDU es den Liberalen bei passender Gelegenheit zurückzahlen könnte. CDU-Innenpolitiker Wolfgang Bosbach kündigte schon öffentlich an: "Man sieht sich im Leben immer zwei Mal." Und Unions-Fraktionsvize Michael Kretschmer warf den Liberalen einen "gewaltigen Vertrauensbruch" vor. Regierungssprecher Steffen Seibert versuchte im Namen der Kanzlerin zu beruhigen: "Man braucht sich um die Koalition, über den Bestand, überhaupt um die Bundesregierung gar keine Sorgen zu machen", sagte er. Das freilich sah am Sonntagnachmittag deutlich anders aus. Wie jetzt bekannt gewordene Details belegen, stand das Regierungsbündnis aus Union und FDP kurz vor dem Aus; darüber hinaus fanden schwerwiegende Vertrauensbrüche von beiden Seiten statt. Anfangs versuchten beide Parteien noch einen anderen gemeinsamen Kandidaten als Joachim Gauck zu finden, weil Kanzlerin Angela Merkel den 72-Jährigen nicht wollte. Die FDP nahm darauf Rücksicht.
Als aber Verfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle am Freitagabend abgesagt hatte, änderte sich die Lage. Man solle jetzt nicht zwanghaft irgendjemanden als Ersatz suchen, wenn es doch schon einen guten und allseits akzeptierten Kandidaten wie Gauck gebe, trugen FDP-Chef Philipp Rösler und die Seinen in Koalitionsrunden vor. Allerdings war am Sonnabend noch unklar, ob Gauck kandidieren würde, wenn nur SPD, Grüne und FDP ihn stützten. Der 72-Jährige hatte auch eine Zustimmung der Kanzlerin zur Bedingung gemacht. Daher wurden noch Alternativen wie Bischof Martin Huber und Ex-Umweltminister Klaus Töpfer erwogen. Auch mit SPD und Grünen.
Rösler hielt engen Kontakt mit der SPD-Spitze, besonders mit Sigmar Gabriel, der in Goslar weilte. Der SPD-Chef wiederum telefonierte mehrfach mit Gauck. Als dieser am Sonntagmittag signalisierte, dass er doch zu einer Risikokandidatur bereit wäre, ließ Rösler am frühen Sonntagnachmittag sein Parteipräsidium beschließen, dass man Gauck zur Not auch allein mit SPD und Grünen wählen werde. Fraktionschef Rainer Brüderle und der schleswig-holsteinische FDP-Spitzenkandidat Wolfgang Kubicki unterstützten dieses Vorgehen aktiv.
Dieser einseitige und überraschende Pro-Gauck-Beschluss der FDP führte in der Koalitionsrunde dann zu heftigen Auseinandersetzungen und mehrfachen Drohungen der Kanzlerin und anderer Unionspolitiker, dass damit die Koalition auf dem Spiel stehe. Rösler rief sein Präsidium daraufhin gegen 18 Uhr zu einer weiteren Telefonkonferenz zusammen und teilte zu Beginn mit, dass, so ein Teilnehmer, "die FDP vielleicht aus der Regierung fliegt". Trotzdem blieben die Liberalen bei ihrer Linie, nur noch Gauck zu unterstützen.
Der letzte Ausweg


Merkel versuchte jetzt, es war 18.45 Uhr, einen letzten Ausweg - hinter dem Rücken der FDP. Einer ihrer Vertrauten rief bei Gabriel an und bot ihm an, Union und SPD könnten gemeinsam einen Sozialdemokraten zum Präsidenten wählen, die FDP werde schon auch mitmachen, wenn Gauck dann gar nicht mehr antrete. Es sei ein sehr bekannter Name genannt worden, hieß es. Nach unbestätigten Meldungen soll es Henning Voscherau gewesen sein, Hamburgs Alt-Bürgermeister (70). Gabriel lehnte das Angebot jedoch entrüstet ab. Denn die Sozialdemokraten hätten aus seiner Sicht dann als prinzipienlose Pöstchenschieber dagestanden, die Gauck für einen eigenen Parteigänger fallenlassen. Zudem wäre das Bündnis mit den Grünen schwer gestört worden. Jetzt konnte Merkel in einer folgenden einstündigen Schaltkonferenz ihrem CDU-Parteipräsidium nur noch mitteilen, dass man einzig die Wahl zwischen Regierungskrise und Gauck habe. Da man wegen der schwierigen Euro-Lage die Krise nicht wolle, müsse man Gauck mittragen. So sahen es auch alle Teilnehmer.
Bei der FDP wurde noch am Sonntagabend und gestern intern gejubelt. "Wir haben uns durchgesetzt, weil wir endlich mal gestanden haben." Oder: "Wir lassen uns nicht mehr unterjochen." So oder ähnlich hieß es in vielen E-Mails und SMS. Und dass die Liberalen "nicht umgefallen" seien, wurde auch vonseiten der SPD und der Grünen erstaunt und anerkennend konstatiert.
Extra

Die Wahl Joachim Gaucks zum Bundespräsidenten wird am 18. März erfolgen. Es ist der letztmögliche Termin und ein Sonntag. Da nur die Linkspartei (125 Stimmen) Gauck nicht unterstützt, dürfte er von einer großen Mehrheit der 1240 Mitglieder der Bundesversammlung im ersten Wahlgang gewählt werden. Die Linke sucht einen eigenen Kandidaten. Wer es wird, soll bis Donnerstag entschieden sein. wk

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