Die Lage ist nicht im Griff

BERLIN. Für Bundeslandwirtschaftsminister Horst Seehofer (CSU) stand gestern eine Sitzung des EU-Agrarrats in Brüssel auf dem Terminplan. So musste der Bayer die sich überschlagenden Ereignisse bei der Vogelgrippe aus der Ferne kommentieren.

Das Wichtigste sei, der Lage auf Rügen Herr zu werden, betonte der Minister. Doch das kann dauern. Die Situation ist "insgesamt noch nicht im Griff", dämpfte Mecklenburg-Vorpommerns Landwirtschaftsminister, Till Backhaus (SPD) Seehofers Erwartung. Und in der Tat: Eine Woche nach dem ersten Vogelgrippe-Fall auf der größten Insel Deutschlands wurde das gefährliche H5N1-Virus mittlerweile bei mehr als 80 toten Wildvögeln registriert. Tendenz stark steigend. Bundeswehr schickt 250 Soldaten nach Rügen

Von der Epidemie sind jetzt auch die Landkreise Nord- und Ostvorpommern betroffen. Die Bundeswehr kommandierte zusätzlich 250 Soldaten auf die Insel Rügen ab, um die Einsatztruppe beim Einsammeln von Kadavern zu unterstützen. Dabei wäre die Situation wohl weniger dramatisch, hätten die Behörden auf der Ostseeinsel schnell und effektiv gehandelt. Nach langem Zögern hatte die zuständige Landrätin, Kerstin Kassner (Linkspartei/PDS), erst am Sonntagabend den Katastrophenfall ausgerufen. Damit liegt die Einsatzleitung nunmehr bei der Schweriner Landesregierung. Der Sinneswandel kam aber nicht ganz freiwillig. Nach Darstellung von Regierungssprecher Ulrich Wilhelm musste die Bundeskanzlerin bei einem Blitzbesuch auf Rügen offenbar kräftig Druck machen. Angela Merkel habe einen "Anteil" an der Entscheidung für den Katastrophenfall gehabt, formulierte Wilhelm diplomatisch. "Die Arbeit der Landrätin war grottenschlecht", stöhnte die Vorsitzende des Agrarausschusses im Bundestag, Bärbel Höhn (Grüne). Auch beim Bauernverband schüttelt man den Kopf: "Ort und Betrieb des Tierseuchenherdes müssen umgehend isoliert werden. Das ist auf Rügen erst nach Tagen erfolgt, in denen auch durch intensive Besuchertätigkeit von Politikern und Journalisten die Gefahr der Weiterverbreitung des Virus zunahm", kritisierte Verbandspräsident Gerd Sonnleitner gegenüber unserer Zeitung. Selbst in den eigenen Parteireihen wird Kassner für ihr mangelndes Krisenmanagement gerüffelt. "Es war sicher ein Fehler, den Katastrophenalarm vorsorglich nicht schon eher auszulösen", sagte der Bundesgeschäftsführer der Linkspartei, Dietmar Bartsch, unserem Blatt. Regierungssprecher Wilhelm stellte indes klar, dass die Bundesregierung trotz aller Pannen weiter an den geltenden Zuständigkeiten von Landkreisen und Ländern festhalten will. Nach Artikel 35 des Grundgesetzes ist der Bund erst dann weisungsbefugt, wenn eine Seuche wie die Vogelgrippe in mehreren Bundesländern auftritt. Der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP, Jörg van Essen, hält ein solches Szenario für unvermeidlich. Schließlich sei der Erreger auch schon in Frankreich aufgetaucht. Die FDP-Bundestagsfraktion hat deshalb für morgen eine Sondersitzung des Agrar-Ausschusses beantragt. Dort soll die Regierung erläutern, wie sie sich eine bundesweite Koordinierung im Kampf gegen die Vogelgrippe vorstellt. Die geltende Verteilung der Kompetenzen ist auch bei der Bevorratung von Impfstoffen hinderlich. Zwar ist das H5N1-Virus bislang nicht bei Nutztieren festgestellt worden. Und auch für eine Übertragung unter Menschen gibt es keinerlei Anzeichen. Trotzdem müssen die Länder für den Ernstfall gewappnet sein. Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) regte deshalb ein Sondertreffen mit den Amtskollegen der Länder noch in dieser Woche an. Im Sommer vorigen Jahres hatten sich die Gesundheitsressortchefs darauf verständigt, für 20 Prozent ihrer Bevölkerung antivirale Medikamente wie Tamiflu einzulagern. Bis zur Entwicklung eines wirksamen Impfstoffs können solche Mittel den Ausbruch der Krankheit verhindern. Bis heute wurde die Vorgabe aber sehr unterschiedlich umgesetzt. Während zum Beispiel Nordrhein-Westfalen für 30 Prozent seiner Bevölkerung Vorsorge getroffen hat, stehen antivirale Substanzen in Ländern wie Berlin oder Brandenburg nur für sechs bis acht Prozent der Bevölkerung zur Verfügung.

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