"Die Leute haben das Vertrauen in die Politik verloren"

Der frühere CDU-Generalsekretär Heiner Geißler sieht die Wut der Bürger auf Großprojekte darin begründet, dass die Politik nicht ausreichend informiert. Im TV-Interview fordert der Stuttgart-21-Schlichter ein Umdenken der Verantwortlichen.

Bitburg. (wie) Kaum ein Alt-Politiker ist derzeit in den Medien so präsent wie der ehemalige rheinland-pfälzische Sozialminister und Ex-CDU-Generalsekretär Heiner Geißler. Woche für Woche leitet er die live im Fernsehen übertragene Schlichtung zum umstrittenen Projekt Stuttgart 21. Am Samstag war er zu einer Lesung im Rahmen des Eifel-Literatur-Festivals in Bitburg (siehe Bericht unten). Vor seinem Auftritt sprach TV-Redakteur Bernd Wientjes mit Heiner Geißler.

Herr Geißler, Sie könnten doch gemütlich zu Hause auf dem Sofa sitzen und Bücher schreiben. Warum tun Sie sich die Schlichtung des Projektes Stuttgart 21 an?

Geißler: Ich saß noch nie gerne auf dem Sofa. Mich haben sowohl die Gegner als auch die Befürworter gebeten, das zu übernehmen. Man kann sich einer solchen Aufgabe nicht entziehen. Außerdem ist die Lage am 30. September eskaliert, mit 100 Verletzten, davon zwei bis heute Schwerverletzten.

Warum ist die Lage überhaupt aus dem Ruder gelaufen? Wie konnte es so weit kommen?

Geißler: Die Bürger waren nicht richtig vorbereitet. Die Planfeststellung liegt Jahre zurück. Die erste Diskussion über das Projekt war vor 25 Jahren. Diejenigen, die damals dabei waren, sind entweder tot oder nicht mehr aktiv. Nun muss die darauffolgende Generation etwas realisieren, woran sie im Entstehungsstadium nicht beteiligt war. So hat der jetzige baden-württembergische Ministerpräsident Stefan Mappus das Projekt quasi von seinem Vorgänger geerbt.

Was erhoffen Sie sich von der Schlichtung?

Geißler: Die Bürger werden damit in die Lage versetzt, sich durch einen in aller Öffentlichkeit geführten Dialog zu informieren. Meine Bedingung war daher, dass diese bürgerdemokratische Diskussion live im Fernsehen übertragen und komplett ins Internet gestellt wird.

Wenn man die Schlichtungsrunden verfolgt, kann man aber nicht von einem wirklichen Dialog reden. Wie ist Ihr Eindruck? Gibt es bereits eine Annäherung?

Geißler: Schon das Klima ist wesentlich besser geworden. Und es ist doch schon ein wesentlicher Erfolg, dass alle an einem Tisch sitzen - und zwar auf Augenhöhe. Das ist eine neue Informationsebene, die es bislang außerhalb des Parlaments so nicht gegeben hat. Es kann natürlich sein, dass alle bei ihrem Standpunkt bleiben.

Und dann?

Geißler: Die Bürger haben die Möglichkeit gehabt, selber zu urteilen, wer Recht hat.

Ihre Parteichefin, Bundeskanzlerin Angela Merkel, hat ja gesagt, sie ist für Stuttgart 21. Können Sie da überhaupt neutral sein?

Geißler: Meine Meinung bilde ich mir selber. Es gibt im Übrigen auch Parteimitglieder, die gegen den Bahnhof sind.

Und Sie?

Geißler: Ich bin als Schlichter absolut neutral.

Ziel einer Schlichtung ist es normalerweise, einen Kompromiss zu finden. Aber bei Stuttgart 21 kann es doch keinen Kompromiss geben. Entweder der Bahnhof geht unter die Erde, oder er bleibt, wo er ist.

Geißler: Das ist zu einfach. Ich habe von Anfang an gesagt: Wir können keinen neuen Bahnhof erfinden. Es ist eine Faktenschlichtung, wie wir sie auch in Tarifverhandlungen haben. Es sollen die verschiedenen Positionen gegenübergestellt werden. Dadurch soll dann nach Möglichkeit ein Konsens hergestellt werden.

Das heißt, am Ende müsste ein Volksentscheid über das Projekt stattfinden?

Geißler: Das kann sein, das ist aber nicht mehr Aufgabe der Schlichtung.

Brauchen wir grundsätzlich bei Großprojekten in Deutschland eine Schlichtung oder eine bessere Einbindung der Bürger - etwa durch Volksentscheide?

Geißler: Das kann man nicht bei jeder Ortsumgehung machen. Bei Großprojekten aber schon. Vor allem muss das Baurecht vereinfacht werden. Die viel zu lange dauernden Planfeststellungsverfahren sind in der heutigen Zeit absolut ungeeignet, modernes Bauen zu ermöglichen. Der Bauablauf wird durch Entscheidungen festgelegt, die Jahre zurückliegen.

Würde beim umstrittenen Hochmoselübergang eine Schlichtung jetzt noch Sinn machen?

Geißler: Wahrscheinlich ist da die Tür bereits ins Schloss gefallen. Wenn man es nochmal zu entscheiden hätte, wäre eine Schlichtung sicherlich angebracht.

Woran liegt die Wut der Bürger auf solche Großprojekte?

Geißler: Die Leute haben mittlerweile ihr Vertrauen in die Politik verloren. Daneben haben sie ein tiefes Misstrauen in die moderne Technik.

Warum?

Geißler: Die Menschen gewinnen zunehmend den Eindruck, Technologie wird nicht eingesetzt zum Wohle der Menschen, sondern nur, um Profit zu erzielen. Da versinkt plötzlich das Kölner Stadtarchiv in einem Riesenloch. Die Ursache dafür ist ein planfestgestellter U-Bahn-Bau. Dann fließen im Golf von Mexiko von einer zu Unrecht genehmigten Ölbohrplattform eine Million Tonnen Öl ins Meer. In Chile sind Bergleute in einem Stollen eingeschlossen, der so hätte gar nicht genehmigt werden dürfen. In dieses allgemeine Misstrauen der Bevölkerung gegenüber Politik, Wirtschaft und Technologie fällt ein gigantisches Projekt wie Stuttgart 21.

Stuttgart ist allerdings nur ein Beispiel. Es wird ja auch gegen Castor-Transporte und die Atompolitik allgemein demonstriert. Gibt es einen neuen Widerstand in Deutschland?

Geißler: Es gibt keinen generellen Widerstand gegen Großprojekte. Die Bürger wollen aber, dass sie vor der Realisierung besser informiert werden und dass man ihre Argumente ernst nimmt. Bei der Atompolitik ist es der Regierung nicht gelungen, den Bürgern zu vermitteln, warum die Laufzeit der Atomkraftwerke verlängert werden muss. Man hätte auf den Bundesumweltminister Norbert Roettgen und nicht auf Bundesumweltminister Rainer Brüderle hören müssen.

Ich zitiere mal aus Ihrem Buch: Die Arroganz der Macht ist der erste Schritt auf dem Weg in die Opposition. Gilt das generell für die derzeitige Politik?

Geißler: Wir leben in einer Mediendemokratie mit Internet und Facebook und Blogs. Wir haben ganz andere Informationsmöglichkeiten als früher. Mit einem Mausklick können sich Zehntausende von Menschen zusammenschließen. Die Politik hat das noch nicht erkannt.

Wird sich die Demokratie durch Stuttgart 21 ändern?

Geißler: Ich hoffe. Die Politik muss transparenter werden und in den Dialog mit den Betroffenen treten. Zur Person Heinrich "Heiner" Geißler, geboren am 3. März 1930 in Oberndorf am Neckar, war von 1967 bis 1977 Sozialminister in Rheinland-Pfalz, danach bis 1989 CDU-Generalsekretär und von 1982 bis 1985 Bundesgesundheitsminister. Der Philosoph und Jurist trat 2007 der globalisierungskritischen Organisation Attac bei. Er ist verheiratet und lebt im südpfälzischen Gleisweiler. (wie)

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