Die Politiker streiten, das Volk feiert

Der Mauerfall am 9. November 1989 war ein historischer Glücksfall. Unser Hauptstadt-Korrespondent Werner Kolhoff, damals Sprecher des (West-)Berliner Senats und Vertrauter des Regierenden Bürgermeisters Walter Momper (SPD), schildert in dieser TV-Serie bis zum 12. November täglich seine persönlichen Erlebnisse rund um den Tag des Mauerfalls.

 Tag eins der neuen Freiheit: Das Passieren der Grenze geht jetzt ganz leicht. Personalausweis- oder Pass-Vorzeigen reicht. TV-Foto: Andreas Schoelzel

Tag eins der neuen Freiheit: Das Passieren der Grenze geht jetzt ganz leicht. Personalausweis- oder Pass-Vorzeigen reicht. TV-Foto: Andreas Schoelzel

10. November 1989, Freitag:

Berlin ist im Ausnahmezustand, und wir sitzen im Rathaus Schöneberg fest. Es gibt unendlich viel zu organisieren - neun neue Grenzübergänge werden an diesem Tag mit der DDR ausgehandelt, für die Flüchtlinge werden neue Unterbringungsmöglichkeiten geschaffen, unsere vorbereitete Informationszeitung für die DDR-Gäste hat Schlussredaktion. Und es gibt unendlich viel zu kommunizieren. Medien aus vielen Ländern rücken an, wollen Interviews oder auch nur Standplätze für ihre Übertragungswagen. Am liebsten direkt am Brandenburger Tor. Jede Nachrichtensendung der Welt beginnt an diesem Tag mit den Bildern von den tanzenden Menschen auf der Mauer vor dem Brandenburger Tor. Gegen Mittag kommt Willy Brandt ins Rathaus, der sich die Szenerie an Berlins Wahrzeichen ebenfalls angesehen hat. Er geht in Walter Mompers "Amtszimmer", in dem er einst selbst residierte und wo noch immer Ernst Reuters Schreibtisch steht. "Na, Bürgermeister", sagt Brandt strahlend, "das ist ein Tag, was".

Das Abgeordnetenhaus kommt zu einer Sondersitzung zusammen, die mit Lautsprechern nach draußen auf den John-F.-Kennedy-Platz übertragen wird. Es wird eine peinliche Debatte. Die CDU will unbedingt, dass das Wort "Einheit" in der zu beschließenden Resolution vorkommt. SPD und Grüne halten dagegen, dass es erst mal um die "Selbstbestimmung" der Menschen in der DDR gehe. Beide Seiten befehden sich heftig. Von der Feierlichkeit des Tages spürt man nichts mehr. Just als ein Abgeordneter der rechten "Republikaner" redet, trifft Kanzler Helmut Kohl im Saal ein. Er kommt direkt von einem Staatsbesuch in Polen, wo ihn die Nachricht vom Mauerfall überraschte. Draußen wird gepfiffen, als er begrüßt wird. Ein anderer Republikaner singt am Rednerpult das Deutschlandlied. Nun wird noch mehr gepfiffen.

Nach der Parlamentssitzung findet am frühen Abend vor dem Rathaus eine Kundgebung statt. Rund 40 000 Menschen sind gekommen. Helmut Kohl beschwert sich bei Walter Momper, dass er als Erster sprechen soll und nicht als Letzter. Dabei hat Parlamentspräsident Jürgen Wohlrabe die Reihenfolge festgelegt, ein CDU-Mann. Sie wird kurzfristig wieder geändert. Ich stehe nahe bei den Rednern. Walter Momper, der nun nach Wohlrabe als Zweiter redet, sagt, dieses Kapitel der Geschichte werde "vom Volk der DDR" geschrieben. Heute sei "nicht der Tag der Wiedervereinigung, sondern des Wiedersehens". Ich höre, wie Kohl zu seinen Nachbarn grummelt: "Lenin spricht, Lenin spricht". Als er selbst spricht, wird er gnadenlos ausgepfiffen, obwohl seine Rede sehr moderat ist. Die Kundgebung ist fast zu Ende, da sorgt Parlamentspräsident Wohlrabe für einen zweifachen Eklat. Erstens liest er die soeben beschlossene Parlamentsresolution vor, aber in der CDU-Fassung, die keine Mehrheit gefunden hatte, mit dem Wort "Einheit". Und dann stimmt er, ohne jede Notenkenntnis, das Deutschlandlied an. Momper, Kohl, Genscher und Brandt singen notgedrungen mit, alle vier ähnlich musikalisch begabt. Es klingt grausam. So wird der erste Tag der Reisefreiheit zum Tag der Misstöne - der musikalischen und der politischen. Das Volk aber feiert ausgelassen.

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