Die Seele der Mitglieder kocht

Berlin. Bundeskanzlerin Angela Merkel müssten die Ohren geklingelt haben: In ungewöhnlich scharfer Form kritisierte der Wirtschaftsrat der CDU gestern die Arbeit der großen Koalition.

"Die Seele der Mitglieder des Wirtschaftsrates kocht wegen der Blockadepolitik der SPD in wichtigen Reformfragen, aber auch wegen der mangelnden Sichtbarkeit von wirtschaftspolitischen Konturen in der Union", sagte Wirtschaftsratspräsident Kurt Lauk am Dienstag auf der Jahrespressekonferenz der Organisation in Berlin. Lauk forderte eine Entscheidung über den Sinn und damit den Fortbestand des Regierungsbündnisses bis spätestens Ende 2007. Der Wirtschaftsrat der CDU ist ein bundesweites Netzwerk von über 10 000 Unternehmern und Führungskräften. Er vertritt die Interessen der unternehmerischen Wirtschaft gegenüber der Partei."Union buchstäblich aus der Kurve geflogen"

Die Union sei mit der Bundestagswahl und dem Zwang zur großen Koalition "buchstäblich aus der Kurve geflogen" und befinde sich immer noch in einem "Findungsprozess". Es werde jetzt aber "langsam Zeit, dass die Union ihr marktwirtschaftliches Profil wiedergewinnt", so Lauk weiter. Mit dem Leitprinzip "Mehr Freiheit wagen" habe die Kanzlerin in ihrer Regierungserklärung den Bürgern klar aus dem Herzen gesprochen. Von diesem hehren Leitprinzip habe sich die große Koalition in ihrer Tagesarbeit jedoch immer weiter entfernt. Lauk: "Der linke Rückwärtsgang der Sozialdemokraten ist Ursache dafür, dass in der schwarz-roten Koalition vor allem die Union große Kröten schluckt." Der Präsident des einflussreichen Wirtschaftsflügels der Union machte am Dienstag jedoch deutlich, dass zur Hälfte der Legislaturperiode, spätestens Ende 2007, die entscheidenden Reformschritte bei Föderalismus, Gesundheit, Arbeitsmarkt und Steuern getan sein müssten. "Dann wird sich erweisen, ob die große Koalition überhaupt weiterhin Sinn macht. Die Union selbst muss die Sollbruchstelle der schwarz-roten Koalition bestimmen." Lauk, der die jüngsten Beschlüsse des DGB als "ein K.O.-Programm für die Verbesserung der Arbeitsmarktbedingungen" kritisierte, sieht allerdings auch einige Erfolge der Koalition. Die Aufdeckung der tatsächlichen Haushaltslage, der Einstieg in die Föderalismusreform und eine Stabilisierung der Altersversicherung durch die Rente erst mit 67 seien positiv. Da und in der Außenpolitik habe Kanzlerin Merkel Führungsqualität bewiesen. Nachdrücklich forderte der Wirtschaftsrat eine "Grundrevision" für das Arbeitsrecht und für Hartz IV. So verlangte Lauk die Abschaffung der zweijährigen Zuschläge auf das Arbeitslosengeld II und eine Absenkung des ALG II um 30 Prozent bei Arbeitsverweigerung als Regelfall. Arbeitsminister Franz Müntefering sei zudem aufgefordert, das "verkrustete Arbeitsrecht zu sprengen". Dringend notwendig seien eine Flexibilisierung des Kündigungsschutzes und die Legalisierung betrieblicher Bündnisse für Arbeit ohne Gewerkschaftsveto. Nachdrücklich forderte der Wirtschaftsrat auch eine Unternehmenssteuerreform mit einer Unternehmenssteuerlast von "deutlich unter 30 Prozent" sowie die Abschaffung der Gewerbesteuer. Der Unmut in der Wirtschaft über die Koalitionsarbeit ist insgesamt groß, auch wegen der Reichensteuer und des Antidiskriminierungsgesetzes. So hatte BDI-Präsident Jürgen Thumann die Bundesregierung kürzlich davor gewarnt, ihren "Vertrauensvorschuss" zu verspielen. Unterdessen rief der FDP-Wirtschaftsexperte Rainer Brüderle die Mittelständler in der Union zum Übertritt in die FDP auf. In Briefen an den Wirtschaftsrat und an die Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der Union heißt es: "Ich lade Sie herzlich ein: Kommen Sie zur FDP, bringen Sie Ihre Mitstreiter mit." Brüderle begründete den Aufruf damit, dass in der Koalition die soziale Marktwirtschaft "unter die Räder kommt".

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