Die Vielfalt des Verzichtens

I n einer Welt, die von sich selbst "Gibt's nicht? Gibt's nicht!" sagt, müsste die Liste der Güter und Dienstleistungen, auf die verzichtet werden könnte, eigentlich sehr lang sein. In Umfragen sind es meistens Alkohol, Süßigkeiten, Rauchen, Fleisch, Fernsehen, Computer beziehungsweise Internet und Auto, die den Befragten vorgegeben werden.

Die Reihenfolge entspricht auch der Rangfolge des Verzichts: Nach einer aktuellen For sa-Umfrage würden 54 Prozent der Befragten beim Fasten am ehesten von Wein, Bier und anderem lassen, 40 Prozent ihren Zigarettenverbrauch reduzieren, etwas mehr als 20 Prozent mal den neuen Medien entsagen und noch weniger lassen den Wagen stehen.

Die meisten denken somit wohl: Von allem etwas weniger ist ja auch schon eine Einschränkung. Nur 18 Prozent, so ein Ergebnis des Instituts für Demoskopie Allensbach, fasten aus religiösen Gründen. Wenn die christlichen Kirchen in diesen Tagen wieder zu ihren Fastenaktionen aufrufen, kommen sie auch gar nicht auf die Idee, strenge Fastenregeln einzufordern. Diese sind längst gelockert worden, wahrscheinlich von den meisten eher unbemerkt, so dass etwa verpflichtender Fleischverzicht nur noch am Aschermittwoch und Karfreitag verlangt wird.

Schuldgefühl-Marketing hat Konjunktur



Der durchschnittliche Befragte denkt womöglich noch in viel strengeren Dimensionen. Die Angebote sind kreativer und weniger radikal, wohl wissend, dass zu strenge Appelle eher wie ein Bumerang wirken. Seit mehr als zwei Jahrzehnten lautet das Motto des Gemeinschaftswerks der evangelischen Publizistik "Sieben Wochen ohne ...", dieses Mal "... ohne Scheu". Geworben wird für den direkten Kontakt von Mensch zu Mensch. Statt "Gefällt mir!" also "Sag's mir!".

Die Protestanten wollten dem katholischen Fasten schon immer Taten entgegensetzen. Beim Autofasten, zu dem auch viele katholische Bistümer aufrufen, soll man eben so oft es geht auf Füße oder andere Räder umsteigen. Fasten und Verzichten galten über viele Jahrhunderte als religiöse Gebote, die die Gläubigen zudem selbst erfinderisch machten. So wirkt das Fastenbier wie ein geduldeter Widerspruch, ebenso wurde von üppigen Fischspeisen berichtet. Um die Maultasche ranken sich diverse Legenden, zum Beispiel jene, dass sie ein gutes Fleischversteck darstellte und im Schwäbischen daher auch "Herrgottsbscheißerle" genannt wurde. Ausnahmen sollten wohl auch hier die Regel bestätigen.

Dabei kann Enthaltsamkeit durchaus rentabel sein, zum Beispiel in Bezug auf die Lebenserwartung. Während Männer, wohl auch aufgrund eines stressreicheren und weniger ernährungsbewussten Lebens, im Durchschnitt fünf bis sechs Jahre früher aus dem Leben scheiden als Frauen, reduziert sich die Differenz in der Lebenserwartung zwischen Mönchen und Nonnen auf ein bis zwei Jahre. Beide Gruppen üben sich also in "Weltverneinung", die sich lohnt.

Aber in Klöstern begegnen sich heute immer häufiger Teilzeit-Asketen, die eine "Auszeit vom Alltag" nehmen. Auf Dauer gilt für das Management eben: "Wer Zeit hat, macht sich verdächtig." Jedenfalls nehmen Selbstversuche zu, in denen dem eigenen Willen etwas Besonderes abverlangt wird: Diäten, Bodybuilding, Extremsport - Investitionen in den eigenen Körper haben Konjunktur, hier und da fällt das Wort "Selbstgeißelung". Man ist strenger zu sich als zu Glaubenszeiten. Sogar die zeitliche Befristung entfällt.

Die Fastenzeit geht vorüber, die Disziplinierung des eigenen Körpers aber hört nach Ostern nicht auf und hält neue Dienstleister und Industriezweige auf Trab - und umgekehrt. Wem diese Programme zu anstrengend sind, dem kommt der Markt mit entlastenden Angeboten entgegen. Auch hier müssen Prioritäten gesetzt werden. Zu zahlreich sind die Vorschläge zur Weltverbesserung, Schuldgefühl-Marketing hat Konjunktur: kein Spielzeug aus China, nur noch Gemüse mit zertifiziertem Siegel, freilaufende Hühner - es lebe das gute und nachhaltige Konsumieren.

Verzicht bekommt dadurch ein anderes Gesicht. Einschränkung heißt dann: Das Produkt hat gefälligst in Ordnung zu sein. Der Verbraucher ist und wird überzeugt, mit dem Verzicht auf gewisse Produkte eine bessere Welt zu schaffen. Vom Fasten in seiner ursprünglichen Form ist somit zwar etwas übriggeblieben, aber neben dem religiös motivierten Verzicht hält die moderne Gesellschaft viele Angebote bereit, die dem Entsagen mal eine aufwandsarme, mal eine anstrengendere Form geben. Die Selbstverwirklichung auf breiter Front fordert auch dort Vielfalt, wo es um Verzicht geht. ZUR PERSON Professor Dr. MichaelJäckel, 1959 in Oberwesel geboren, wurde Mitte Februar zum Präsidenten der Uni Trier gewählt, nachdem er seit 2003 deren Vizepräsident war. Seit 2002 hat Jäckel eine Professur in Soziologie an der Universität Trier inne - Spezialgebiet Konsumforschung.

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