Die Wähler als Komplizen - warum Politiker lügen müssen

Empörung allerorten: Da haben wir sie wieder, die hässlichen Politiker. Öffentliche und veröffentlichte Meinung feiern wahre Orgien in der Beschimpfung und Entlarvung der fraktionsübergreifenden "Umfaller", "Lügner" und "Betrüger". Dabei wird übersehen, dass das Verbiegen der Wahrheit eine unvermeidliche Nebenwirkung unserer parlamentarischen Medien-Demokratie darstellt. Die meisten Bürger hatten mit Parteien noch nie näher zu tun. Vielleicht erklärt das die naive Empörung, mit der sie immer wieder auf gebrochene Versprechen oder erlogene Zusicherungen reagieren. Parteien sind in einem parlamentarischen System Zusammenschlüsse zum Machtgewinn und -erhalt. Sie basieren auf gemeinsamen Weltanschauungen, nicht auf individueller Glaubwürdigkeit. Sie verlangen Loyalität gegenüber der gemeinsamen Sache, den zur Verfolgung dieser Sache getroffenen Entscheidungen und den sie ausführenden Personen. Wer im Parteiensystem etwas werden will, braucht Biegsamkeit, taktisches Geschick und Beziehungsgeflechte. Ehrlichkeit und persönliche Konsequenz sind dabei eher hinderlich. Man hebt den Finger, wenn es die Partei-Räson erfordert - und ballt die Faust in der Tasche. Zur Belohnung winken Teilhabe an der Macht und die Sicherung der Existenz. Der englische Premierminister Robert Walpole hat die parlamentarische Demokratie darob schon im 18. Jahrhundert treffend als "government by corruption" bezeichnet - und das gar nicht negativ gemeint. Ehrlichkeit zu praktizieren, ist seit Walpoles Zeiten für Politiker noch sehr viel schwieriger geworden. Denn der Wähler pflegt heutzutage jeden Anflug von Ehrlichkeit, wenn er sich denn auf unangenehme Dinge bezieht, mit sofortigem Entzug der Stimme zu bestrafen. Beispiel gefällig: Anno 1990 log Einheitskanzler Helmut Kohl, dass sich die Balken bogen. Den Bürgern im Osten gaukelte er blühende Landschaften vor, denen im Westen erzählte er, der größte Sanierungsfall der europäischen Nachkriegsgeschichte werde sie keinen Pfennig kosten. Jeder, der den Verstand nutzte, wusste, dass beides nicht stimmte. Aber Herausforderer Oskar Lafontaine, der die Kollateralschäden der Einheit ehrlich beschrieb, wurde abgewatscht. Die es besser wussten in Politik und Publizistik, schwiegen, weil sie den Einheitsprozess nicht gefährden wollten. Helmut Kohl wurde freilich hinterher als Umfaller beschimpft, als er die Rechnung präsentieren musste. In die Geschichtsbücher wird seine dreiste Lüge dennoch (oder deshalb?) als strategische Meisterleistung eingehen. Wahrheitsliebe in ungewöhnlichem Maße zeichnete 2006 den Wahlkampf von Angela Merkel aus. Sie kündigte unvermeidliche Mehrwertsteuer-Erhöhungen vorher an und holte sich mit Paul Kirchhof einen Wissenschaftler ins Team, der die Erosion der Steuer- und Sozialsysteme ebenso präzise beschrieb wie die mögliche, schmerzhafte Sanierung. Resultat: Merkel verlor in den letzten Wochen vor der Wahl fünf Prozent an die Sozialdemokraten, die das Blaue vom Himmel herunter versprachen, natürlich ohne Zusatz-Steuern. Der "Professor aus Heidelberg" wurde für seine Ehrlichkeit auf dem offenen Wahlkampf-Feuer gegrillt, die Wähler wollten lieber angenehm beschwindelt werden als mit lästigen Wahrheiten konfrontiert. Haben sie dann das Recht, sich aufzuregen? Sie sind doch wohl eher Komplizen. Fatalismus kann einen packen angesichts von Frau Ypsilanti, der gescheiterten Ritterin von der traurigen Gestalt. Was, wenn sie vor der Wahl einfach wahrheitsgemäß gesagt hätte: "Liebe Leute, ich will, wenn es geht, nicht mit den Linken zusammenarbeiten, aber es kann nach der Wahl eine Kostellation geben, in der mir gar nichts anderes übrig bleibt". Dann hätte in Hessen niemand mehr über politische Inhalte geredet, sondern nur noch über einen vom politischen Gegner systematisch aufgeblasenen Popanz namens Linkspartei. Und dieselben Kommentatoren, die jetzt postulieren, Frau Ypsilanti hätte doch einfach nur ehrlich sein sollen, dann wäre alles gut, hätten sie für ihre Ehrlichkeit vor der Wahl bei lebendigem Leib gehäutet.

Emotionen helfen nicht weiter. Die Sache ist komplizierter, als die oberflächliche Betrachtung suggeriert. Vor allem sollte man nicht aus den Augen verlieren, dass das "government by corruption" samt seinen die Wahrheit bisweilen schädigenden Nebenwirkungen immer noch besser ist als alle anderen bekannten Varianten. Ein Freibrief für Gaukler? Nein. Aber Politik kann nur so ehrlich sein, wie die Wähler die Wahrheit verkraften. Besser noch: sie honorieren.

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