Die Wahrheit liegt auf dem Platz

TRIER. "Es gibt nur einen Rudi Völler", skandieren zehntausende deutscher Fans im Sommer 2002 vor dem Frankfurter Römer nach dem Gewinn der Vize-Weltmeisterschaft. Zwei Jahre später ist der Teamchef des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) nach dem Vorrunden-Aus bei der Europameisterschaft in Portugal zurückgetreten. Wie hat sich der deutsche Fußball in seiner Amtszeit entwickelt? Der TV zieht eine Bilanz.

"Die Wahrheit liegt auf dem Platz", ist ein beliebtes Zitat des Fußball-Lehrers Otto Rehhagel, der Mitte der 80er Jahre beim SV Werder Bremen Trainer des damaligen Mittelstürmers Rudi Völler war. So banal dieser Satz auch klingt, so unumstritten hoch ist sein Wahrheitsgehalt: Wer das Fußballfeld als Gewinner verlässt, hat immer alles richtig gemacht, wer verliert, ist der Dumme. Oder konkret auf die Europameisterschaft 2004 in Portugal angewendet: Die von Rehhagel trainierten Griechen stehen erstmals bei einer EM im Viertelfinale, Deutschland ist zum zweitenmal in Folge in der Vorrunde gescheitert. Als Rudi Völler nach der Kokain-Affäre des designierten Bundestrainers Christoph Daum im Sommer 2002 spontan das Amt des DFB-Teamchefs übernimmt, liegt der deutsche Fußball am Boden. Die nur zweijährige Ära von Teamchef Erich Ribbeck endet bei der Euro 2000 in Belgien und den Niederlanden abrupt: Die deutsche Mannschaft scheidet in der Vorrunde sang- und klanglos aus. In der Stunde der größten Not kommt Rudi Völler, der Weltmeister von 1990. Der Sympathieträger, von den Fans meist nur "Tante Käthe" genannt, soll das Aushängeschild des größten Fußballverbandes der Welt wieder auf Vordermann bringen.Furioser Start: Der Glaube kehrt zurück

Zusammen mit seinem Trainer Michael Skibbe startet Völler furios mit einem 4:1-Sieg im Freundschaftsspiel gegen Spanien. Der Glaube an das deutsche Team kehrt nur wenige Wochen nach dem absoluten Tiefpunkt urplötzlich zurück, und vielen Nationalspielern macht es auf einmal wieder Spaß, das Trikot mit dem Bundesadler zu tragen. Völler setzt notgedrungen auf viele Spieler, die bei der EM versagt hatten, baut aber auch einige jüngere Talente wie Miroslav Klose ein. Um sich für die WM 2002 in Japan und Südkorea zu qualifizieren, muss die deutsche Elf in die Relegation gegen die Ukraine. Der 4:1-Sieg im Rückspiel in Dortmund ist die Initialzündung für eine unerwartet gute WM: Deutschland kämpft sich bis ins Endspiel, in dem "Rudis Riesen" den Brasilianern mit 0:2 unterliegen. So schön dieser Erfolg war, der natürlich überschwänglich gefeiert wird: Der Gewinn des Vize-WM-Titels hat viele Schwächen des deutschen Fußballs übertüncht. Schon bei dieser WM profitiert das DFB-Team von seiner Abwehrstärke und einem überragenden Torhüter Oliver Kahn. Glückliche 1:0-Erfolge über die nicht zu den internationalen Top-Teams zählenden USA und Südkorea im Viertel- und Halbfinale hätten eigentlich schon stutzig machen müssen. Beide Treffer erzielt Mittelfeldspieler Michael Ballack, lediglich Miroslav Klose mit fünf WM-Toren verdient sich die Bezeichnung Stürmer. In Freundschaftsspielen gegen die Spitzenteams aus England (1:5), Italien (0:1), den Niederlanden (1:3) und Frankreich setzt es in den vergangenen beiden Jahren ausschließlich Niederlagen. In der Qualifikation für die EM 2004 bleibt die deutsche Mannschaft zwar unbesiegt, überzeugt aber kaum. Nach dem dürftigen 0:0 auf Island rastet Rudi Völler im Interview mit ARD-Sportreporter Waldemar Hartmann völlig aus und wehrt sich verbal unter der Gürtellinie gegen die Kritik an seiner Mannschaft. Ob aus Dankbarkeit wegen der Vize-WM oder aus welchen Gründen auch immer: Der Teamchef stellt sich auch nach erbärmlichen Leistungen immer vor seine Spieler. So geschehen nach dem 1:5-Debakel in Rumänien oder dem 0:2 im Jubiläumsspiel gegen Ungarn kurz vor der EM. Vielleicht hätte der immer nette, offene und ehrliche Rudi Völler einfach mal im Stile des "Kaisers" Franz Beckenbauer in aller Öffentlichkeit grollen müssen, denn das Vertrauen, das er in seine Spieler setzt, wird ihm nur von wenigen zurückgezahlt. Hinsichtlich der Nominierung seines EM-Aufgebotes kann man dem Teamchef kaum einen Vorwurf machen. Bessere Spieler gibt es in Deutschland derzeit nicht, und mit Blick auf die WM 2006 im eigenen Land hätte es auch keinen Sinn gehabt, den 35-jährigen Stürmer Martin Max mit nach Portugal zu nehmen. Stattdessen setzt er im letzten Augenblick auf die Jugend und nominiert die bei der U 21-EM in der Vorrunde ausgeschiedenen Bastian Schweinsteiger und Lukas Podolski.Es fehlt: Der unbedingte Siegeswille

Neben den einzigen Führungsspielern Ballack und Kahn setzen die jüngeren Spieler die Akzente: Philipp Lahm, Arne Friedrich und Schweinsteiger zeigen wenigstens Leidenschaft, während andere wie Dietmar Hamann oder Torsten Frings stark enttäuschen. Spielerische Defizite können nicht während eines EM-Turniers behoben werden, doch in den Partien gegen Lettland und die B-Mannschaft Tschechiens fehlt zudem der unbedingte Siegeswille. Es reicht eben nicht, nur 20 oder 45 Minuten alles zu geben - wer die Spiele Tschechien - Niederlande oder Schweden - Italien gesehen hat, kann nachvollziehen, was das Wort Einsatzfreude bedeutet. Auch wenn es in Deutschland derzeit keine internationalen Topstürmer gibt, hat Rudi Völler mit seiner defensiven Aufstellung gegen Tschechien das falsche Zeichen gesetzt. In einem Gruppen-Endspiel, das unbedingt gewonnen werden muss, ist mehr Risiko vonnöten. Zwei oder sogar drei Angreifer hätten dem Team signalisiert, bedingungslos zu attackieren. Mit Kuranyi als einziger Spitze präsentiert sich die deutsche Elf dagegen ängstlich und nervös.Stilvoller Abgang: Danke, Rudi!

In der Niederlage zeigt sich die wahre Größe. Wie sich Rudi Völler von seinen Fans verabschiedet hat und gestern seinen Rücktritt verkündete, war stilvoll. Danke, Rudi! Seinem Nachfolger hinterlässt er im Gegensatz zu Erich Ribbeck vor vier Jahren eine menschlich intakte Mannschaft, die aber sportlich viele Defizite aufweist. Was Hoffnung macht im Hinblick auf die WM 2006 sind Talente wie Lahm, Schweinsteiger sowie die kranken und verletzten Sebastian Deisler und Christoph Metzelder. Die traurige Erkenntnis lautet: Es fehlen erfahrene Leistungsträger.
Die Wahrheit liegt auf dem Platz - und den werden im EM-Viertelfinale in Portugal die Griechen und nicht die Deutschen betreten. , SPORT SEITEN 17 und 18

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