Dutroux-Prozess: Flucht vor dem Medien-Overkill

ARLON. Ganze 45 Autominuten von Trier entfernt findet zurzeit einer der spektakulärsten Prozesse der europäischen Justizgeschichte statt. Die belgische Kleinstadt Arlon, 20 Kilometer hinter Luxemburg-Stadt, war in den letzten Tagen in einer Art Belagerungszustand.

Ist das wirklich die selbe Stadt, die seit acht Tagen über alle Bildschirme flimmert? Wo sich 1200 Journalisten drängten, um ein Bild des "Monsters" Dutroux zu erhaschen - oder doch wenigstens den Lesern oder Zuschauern daheim den Eindruck zu vermitteln, man sei live dabei beim Sensationsprozess des Jahrzehnts, wenn nicht des Jahrhunderts? Wer durch die 24 000-Einwohner-Stadt am Fuß der Ardennen schlendert, käme kaum auf die Idee, dass hier gegen Marc Dutroux und seine Komplizen verhandelt wird. Träge läuft das Geschäft in den Läden der Innenstadt, deren Angebotsvielfalt vergleichbare deutsche Kommunen bei weitem übertrifft. Putzkolonnen fischen den ohnehin spärlich gesäten Müll vom Pflaster der hübschen Fußgängerzone. Keine auffälligen Hinweisschilder zum Gerichtssaal, keine Plakate, die zu Veranstaltungen oder Diskussionen aufrufen, keine Protestfahnen gegen Kinderschänder. Selbst die belgischen Tageszeitungen, die heute alle mit dem Martyrium von Mélissa und Julie aufmachen, stehen nicht schlagzeilenträchtig vor dem Zeitungsladen, sondern liegen unauffällig drinnen im Regal. Fast scheint es, als wolle die Kleinstadt dem Medien-Overkill der vergangenen Wochen durch eine Flucht in die Normalität begegnen. Überall hängen Werbebanner für den "Carnaval 2004", etliche Schaufenster sind für die "tollen Tage" dekoriert, die in Belgien am zweiten März-Wochenende anstehen. Wer nach dem "Palais de Justice" fragt, landet bei einem imposanten neo-gotischen Gebäude am zentralen Leopolds-Platz, wo das Provinz-Gericht seit seinem Umzug vor zehn Jahren nicht mehr tagt. Vielleicht haben die bekanntermaßen gastfreundlichen Einwohner von Arlon einfach nur keine Lust mehr, Fragen von Leuten zu beantworten, die mit einem Blöckchen in der Hand durch die Straßen ziehen, immer auf der Suche nach einer Story. Nur mit größter Mühe konnte sich beispielsweise die in der Nähe des neuen Gerichtsgebäudes gelegene Schule ISMA des Ansturms erwehren. Reporter seien an den ersten Prozesstagen bis auf den Schulhof marschiert, um Interviews mit den Schülern zu führen, berichtet Direktorin Michèle Majerus. Acht Tage nach Prozessbeginn sei beim Medienrummel "die Luft etwas raus", schreibt erleichtert die lokale Tageszeitung "L'avenir de Luxembourg". Ihr Name rührt nicht vom benachbarten Großherzogtum her, sondern von der gleichnamigen belgischen Provinz, deren Metropole Arlon seit Römerzeiten ist. Titelstory und zwei ganze Seiten widmet "L'avenir" täglich dem Prozess - auch wenn das Thema manchen nervt. Kneipengäste einig: "Die da oben" sind schuld

An der Theke des Bistros "Le Bluff", wo das "Diekirch" auch morgens um 11 schon munter aus dem Zapfhahn strömt, ist man sich einig: Arlon muss ausbaden, was die korrupte Staatsgewalt andernorts verschuldet hat. Der zufällige Schauplatz einer Verhaftung hat dafür gesorgt, dass das friedliche Städtchen im Süden den ungeliebten Prozess angehängt bekam. "Là-haut", da oben, sitze der verfilzte Justizapparat. Da oben, das ist geografisch gemeint: die Region zwischen Namur und Lüttich. Auch ein Teil von Wallonien, wie Arlon. Aber Belgien ist ein vielfach zerrissenes Land. Vor dem futuristischen, spiegelverglasten neuen Gerichtsgebäude am Rand der City herrscht derweil trügerische Ruhe. Von der Innenstadt aus kann man die dunklen Fenster des Rundbaus kaum erkennen, sie sind verdeckt durch einen mehrstöckige Container-Wall diverser Fernseh-Anstalten. Das erinnert an die mobilen Arbeiter-Wohnstädte bei Monumental-Baustellen, nur dass hier die Rückwände durchsichtig sind, so dass man bei den abendlichen Live-Schaltungen den Justizpalast als Panorama hat. Auf Knopfdruck strömen Fotografen herbei

Von 1200 Journalisten ist nicht mehr viel zu sehen, drei Rentner diskutieren mit den Polizisten an der Eingansgkontrolle, ein Touristen-Ehepaar spinkst durch die mit Plastikbahnen beklebten Sichtsperrgitter. Doch dann kommt per Handy aus dem Gerichtssaal die Information, demnächst würden neue Zeugen vorfahren. Binnen einer Minute strömen zwei Dutzend Fotografen aus Containern und Cafés, nehmen Aufstellung und spannen wadenbeinlange Teleobjektive vor ihre High-Tech-Kameras. Der Trubel kann wieder beginnen. Um die Ecke, bei "P'tit Marcel", dem kleinen Muschel-Restaurant, hängt ein handkopiertes Flugblatt im Fenster, auf unauffälligem blasslila Papier. Die vier ermordeten Mädchen sind darauf abgebildet, und ein knapper Text. Dass diese Welt für Kinder so gefährlich sei, heißt es dort, liege nicht nur an denen, die ihnen Böses tun, sondern "auch an denen, die schweigen und wegschauen". Wer darauf achtet, entdeckt diesen leicht zu übersehenden Zettel an vielen Stellen: In der Bäckerei, im Second-Hand-Lädchen, am Zeitungskiosk. Die Menschen in Arlon haben es wohl nicht mit den großen Gesten. Aber diese Botschaft wird auch noch gelten, wenn der große Medientross längst weiter gezogen ist.

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