Ein historischer Tag

Das hat es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht gegeben: Ein komplexes Gesetzespaket, das in seiner zähen Entstehungsgeschichte zu einem Bewusstseinswandel in Politik und Gesellschaft geführt hat, ist nach einem ebenso enervierenden wie fruchtbaren Diskussionsprozess am Freitag von einer großen Koalition der Reformer verabschiedet worden. Ein bemerkenswerter Vorgang von historischer Bedeutung. Wer ermessen will, was sich an diesem 19. Dezember 2003 ereignet hat, muss sich die politische Wirklichkeit vor einem Jahr in Erinnerung rufen. Damals steckte das Land in einer Schockstarre, verursacht von deprimierenden Haushalts- und Wirtschaftsdaten, sowie einer Bundesregierung, die erkennbar am Ende ihres Lateins war, und einer Opposition, die zwischen Resignation und Blockadereflex schwankte. Heute ist alles anders: Der Kanzler hat in die Hände gespuckt und eine Reformwalze in Gang gesetzt. Die Parteien haben sich zusammen gerauft. Die Konjunktur beginnt sich zu erholen. Das Klima wird besser. Darin besteht auch die eigentliche Leistung des Bundeskanzlers. Über die Inhalte und Versäumnisse seiner "Agenda 2010" kann man trefflich streiten, und die Eruptionen, die Schröder vor allem in seiner eigenen Partei damit ausgelöst hat, sprechen Bände. Doch es gehört auch Mut dazu, aus traurigen Wahrheiten (drohender Kollaps des Sozialstaats) die bitteren Konsequenzen zu ziehen, und es gehört Kraft dazu, sich im Lobbyisten-Staat Deutschland gegen die organisierten Widerstände durchzusetzen. Vielleicht hätte der Basta-Kanzler auf die eine oder andere Rücktrittsdrohung verzichten können, ebenso wie die Fraktionsführung der SPD auf die Missachtung des Grundgesetzartikels 38 (Abgeordnete sind frei und nur ihrem Gewissen unterworfen). Die abstruse Debatte um Abweichler und eigene Mehrheiten, für die sich vornehmlich politische Süppchenkocher interessieren, hätte man sich jedenfalls sparen können. Das Fazit dieses Adventstages in Berlin, an dem (symbolhaft?) die Sonne schien: Das Signal des Aufbruchs ist ertönt, nach innen wie nach außen. Deutschland bewegt sich, wenn auch zaghaft. Zwar sind nach dieser beispiellosen Reform-Operation auch Kollateralschäden zu beklagen (Verunsicherung der Bevölkerung, Amerikanisierung der Arbeitskultur), die einer korrigierenden Behandlung bedürfen. Doch ist der nationale Ruck-Effekt, den Ex-Präsident Herzog vor Jahren angemahnt hat, fraglos höher zu taxieren. Endlich mal eine schöne Bescherung. nachrichten.red@volksfreund.de

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