Ein Mann von heute

Berlin/Frankfurt · Aufbauendes aus dem Aufbau Verlag: Dort erscheint der erste Band von Mark Twains "geheimer" Autobiographie - die nicht ganz so geheim ist, wie der Titel verspricht, dafür aber so lesenswert wie seine großen Romane. Man muss nur dazu bereit sein, dem Autor und seinem kurvenreichen Erzählfluss zu folgen.

Berlin/Frankfurt. Würde ein prominenter US-Bürger die Auslandstruppen seines Landes als "unsere uniformierten Attentäter" bezeichnen, die rechtsgestrickten Furien richteten sofort ihre Fadenkreuze aus und machten ihn für solch "unpatriotische" Schmähungen nieder. Einem Mark Twain aber ließen seine Landsleute das durchgehen und kauften vor zwei Jahren die Autobiografie eine halbe Million Mal. Sie erschien 100 Jahre nach Twains Tod - wie es der Autor des Huckleberry Finn verfügt hatte.
Zu recht. Twain, geboren im Jahr des Halley-Kometen 1835, gestorben im Jahr des Halley-Kometen 1910, wusste schon, weshalb er nur "aus dem Grab" zu seinen späteren Lesern sprechen wollte: Da musste er keine Rücksicht mehr auf lebende Personen oder Konventionen nehmen, konnte frei heraus sagen, was Sache ist. Ein Beispiel: Sein Kommentar über ein Gemetzel, das US-Soldaten im amerikanisch-philippinischen Krieg (1899 bis 1902) anrichteten: "Der Feind zählte sechshundert Personen - einschließlich Frauen und Kindern -, und wir vernichteten ihn vollständig und ließen nicht einmal ein Baby am Leben, das nach seiner toten Mutter hätte schreien können. Das ist der weitaus größte Sieg, den die christlichen Soldaten der Vereinigten Staaten je errungen haben."
Weitere Ohrfeigen verpasst er Politikern, organisierter Religion oder den Millionären von der Wall Street - Twain hätte der Occupy-Bewegung richtig viel zu erzählen. Demgegenüber stehen Passagen über seine Kindheit in Missouri, über seine Frau Olivia und die drei Töchter, von denen ihn nur eine überlebte: Sie gehören zum Bewegendsten, was man zu lesen bekommen kann.
Das alles - darüber hinaus etliche Schnurren, wie man sie von Twain erwartet und noch vieles mehr findet man in der jetzt bei Aufbau auf Deutsch erscheinenden "geheimen Autobiographie"; die ist allerdings nicht so geheim, wie der Titel vermuten lässt: Vieles ist im vergangenen Jahrhundert bereits veröffentlicht worden, allerdings oft um kontroverse Passagen "bereinigt". Diese Ausgabe führt das Verstreute zusammen und liefert zugleich alles, was man dazu an Erklärungen braucht. Und hat noch einen Vorteil gegenüber dem US-Original, denn Aufbau packte den Anmerkungsapparat in einen zusätzlichen Band. Der zweite Teil ist in Arbeit, er soll noch deutlich mehr bislang Unveröffentlichtes enthalten, darauf darf man gespannt sein. Und dankbar gegenüber dem Verlag, der mit der Übersetzung Hans-Christian Oeser betraute. Oeser holt den Twain-Ton elegant ins Deutsche herüber.
Twain verzichtete auf eine chronologische Erzählung: Das Buch basiert wesentlich auf Diktaten, in denen er frei drauflos plaudern, abschweifen, sich von aktuellen und vergangenen Ereignissen anregen lassen konnte. So rundet sich hier nichts zu einem Lebensroman, da mag man stellenweise Geduld brauchen, aber sie wird reich belohnt: Twain verstreut seine Goldbrocken sehr großzügig.
Nur Mut also und rein in das Leben des Mr. Samuel Clemens: Man erlebt einen leidenschaftlichen, wütenden, moralisierenden, liebevollen und immer wieder sehr komischen Mark Twain, der uns auch ein Jahrhundert nach seinem Tod noch zeigt, was eine Harke ist. fpl
Mark Twain: Meine geheime Autobiographie, deutsch von Hans-Christian Oeser, Schmuckschuber mit Materialband. Aufbau Berlin, zusammen 1130 Seiten, 49,90 Euro
Hörbuch Mark Twains Lebensgeschichte(n) kann man sich auch vorlesen lassen - und zwar, ein weiteres Glück, von Harry Rowohlt. Wie er das macht, wie er die Stimmung trifft, wie er, zum Beispiel, Twains Kindheitsbeschwörungen direkt ins Herz des Hörers sendet und auch verborgene Gags zart herausstreichelt, das ist große Klasse. Fünf Stunden Hörfreude. Random House Audio, 4 CDs, 300 Minuten, 19,90 Euro.