Ein Strohhaus und neun Kinder

Von unserem Mitarbeiter DIETER GRÄBNER BETTINGEN. Anna Friedrich ist 94 Jahre alt. Sie hat neun Kinder, 13 Enkel und 29 Urenkel. Rechnet man die angeheirateten Familienmitglieder hinzu, und hätten sie alle Zeit und Gelegenheit, Anna Friedrich, die Mutter und Schwiegermutter, die Großmutter und Urgroßmutter zu besuchen, müssten sie einen Bus für 81 Personen mieten. Im TV erzählt Anna Friedrich ihren entbehrungsreichen, aber erfüllten "Lebensweg".

Anna Friedrich lebt in Bettingen in der Südeifel im Haus ihres Sohnes Werner. Bis vor einem Jahr hat sie noch in der Küche mitgeholfen. Das kann sie nun nicht mehr. Sie ist bettlägerig, sieht kaum noch. Vor wenigen Wochen hat sie geträumt: ",Ich war gesund und konnte alles machen. Das war schön. Dann bin ich aufgewacht. Und habe das Bett gesehen, in dem ich liege. Und da habe ich geweint." Hellwach erzählt Anna Friedrich aus ihrem Leben, von Arbeit, Sorge und Angst um die Kinder und ihrem unerschütterlichen Glauben, dass "alles immer wieder gut wird, mit Gottes Hilfe". Ihre Familie lebte in einem strohgedeckten Haus. Ihr Vater war ein Kleinbauer in Brimingen (heute Kreis Bitburg-Prüm). Sie war das fünfte und jüngste Kind. Die Mutter starb, als sie elf Monate alt war. Der Vater konnte sich nicht um sie kümmern. Sie wuchs bei Bekannten auf. Nach der Schule, als Vierzehnjährige, lebte sie wieder bei ihrem Vater, führte den Haushalt und half bei der Feldarbeit. Die junge Frau drosch das Getreide mit der Hand und dem Dreschflegel: "Wehe, man kam aus dem Takt." Später arbeitete sie an der Dreschmaschine, die von Hand gedreht wurde: "Ich war der Motor."Steine schleppen für ein Zubrot

Und sogar im Steinbruch half sie dem Vater, der dort ein Zubrot verdiente. Zwischen 15 und 25 Kilo schwer waren die Steine, die sie wegtragen musste. Lächelnd sagt sie: "Die zu schwer waren, habe ich liegen gelassen." Als sie 17 Jahre alt war, verdingte sie sich als Magd auf dem so genannten Nikolausmarkt in Bitburg, wo die Bauern die Mägde und Knechte für das kommende Jahr auswählten. Sie stand da und wartete wie alle anderen auch. Ein Bauer aus Rittersdorf gab ihr fünf Mark Handgeld. Damit und mit einem Handschlag war der "Arbeitsvertrag" für ein Jahr abgemacht. Eine Magd erhielt damals - 1917 - einen Jahreslohn von etwa 400 Mark. Sie ließ sich 100 Mark Vorschuss geben und kaufte sich "ein Kleid, einen Hut mit roten, grünen und schwarzen Kirschen drauf und hautfarbene Strümpfe". Der Vater schimpfte: "Mach das nicht noch einmal. Wer so verschwenderisch ist, kommt im Leben zu nichts." Anna Friedrich lernte ihren späteren Mann Peter kennen, einen Maurer mit zupackenden Händen. Der Vater hatte einen anderen Hochzeits-Freier für sie ausgesucht, den Großknecht vom Neisebauern in Brimingen. Der kam für sie nicht in Frage: "Meinen Mann wollte ich mir schon selbst aussuchen." 1930 heiratete sie Peter. Sie hungerten und sparten und bauten ein Haus in Bettingen, in das sie 1933 einzogen. Ihr Mann wurde 1939 zu den Pionieren zum Bau der Siegfriedlinie eingezogen, die Deutschland im Westen vor Angreifern schützen sollte. Der Krieg kam. Nach jedem Heimaturlaub wurde die Familie größer. Und der Krieg kam immer näher. 1944 wurde Herbert, ihr neuntes Kind, geboren. Er starb, gerade mal sieben Monate alt, nach einem Artilleriebeschuss durch die Amerikaner - vermutlich an einem Lungenriss, verursacht durch den Luftdruck einer explodierenden Granate: "Unter dem Krachen der Granaten trug ich ihn allein zum Friedhof." Das Haus, das sie gebaut hatten, wurde von einer Bombe zerstört. Anna und ihre Kinder waren verschüttet: "Sie gruben uns aus, und wir lebten alle - wie durch ein Wunder."Hamstertouren nach Köln

Ihre Tochter Anita, 66, erinnert sich: "Sie war eine starke, tapfere Frau mit neun Kindern. Der Mann war im Krieg. Sie molk für fremde Bauern die Kühe, damit wir Milch hatten. Sie hat uns streng und im christlichen Glauben erzogen. Und sie war immer optimistisch, auch wenn es uns nicht gut ging." So viele Kinder in diesen schlechten Zeiten - das war natürlich auch ein Thema im Beichtstuhl. Nach dem neunten Kind fragte der Pfarrer: "Willst du noch ein Kind?" Sie sagte: "Nein, ich habe genug." Der Pfarrer sagte: "Dann darfst du nicht mehr mit deinem Mann zusammen sein." Sie antwortete: "Ob das hinhaut?!" Nach dem Krieg unternahm sie Hamstertouren bis nach Köln. Dort verkaufte sie die Butter, die sie im Dorf für 200 Mark einkaufte, für 800 Mark. Sie brauchte Geld für die Kleider und Schuhe der Kinder. Eine halbe Stunde erzählt sie mit klarer fester Stimme aus ihrem Leben, lässt ihre Erinnerungen fliegen. "Ich habe ein schönes Leben gehabt", sagt sie nach einer kurzen Pause zum Schluss, "schade, dass mein Mann schon vor über 20 Jahren von mir gegangen ist."

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort