Eine Partei zerlegt sich selbst

BERLIN. Die Unruhe in der SPD nimmt zu: Hartz IV spaltet die Republik, Ex-SPD-Chef Oskar Lafontaine hat Kanzler Gerhard Schröder zum Rücktritt aufgefordert und eine scharfe Reaktion des Parteivorsitzenden Franz Müntefering provoziert, und in Nordrhein-Westfalen verleugnen Genossen ihre eigene Partei.

Was sich in diesem Sommer 2004 abspielt, ist in der deutschen Politik ohne Beispiel: Eine Partei zerlegt sich selbst. Nachdem Schröder und Müntefering die "Agenda 2010” mit massivem Druck in Partei und Fraktion mehrheitsfähig gemacht hatten, schien die SPD zeitweise in ruhigeres Fahrwasser zu segeln. Doch das Gegenteil trat ein. Der dramatische Absturz in der Wählergunst (bundesweit pendelt die SPD zwischen 23 bis 25 Prozent) macht zunehmend Genossen nervös, zumal im September weitere Wahlen anstehen: In Brandenburg, Sachsen und an der Saar werden neuen Landtage gewählt, in Nordrhein-Westfalen neue Kommunalparlamente. Vor allem im Ruhrpott, der "Herzkammer” der SPD, liegen die Nerven blank: Prominente Genossen wie die Bonner Oberbürgermeisterin Bärbel Diekmann oder der Ex-Bundestagsabgeordnete Friedhelm Julius Beucher verleugnen im Wahlkampf sogar ihre Parteizugehörigkeit. Beuchers Begründung: "Ich muss mich vom Negativtrend der SPD abkoppeln.” Den Negativtrend stoppen möchte auch Ex-Parteichef Oskar Lafontaine, allerdings in einer Manier, die der Parteispitze die Zornesröte ins Gesicht treibt. Lafontaines Verhalten sei "eitel und unsolidarisch”, schimpfte SPD-Chef Franz Müntefering am Wochenende. Lafontaine habe den Anspruch verwirkt, verantwortlich für die Idee der Sozialdemokratie und die SPD zu sprechen. Zuvor hatte der Saarländer in einem "Spiegel”-Interview den Bundeskanzler ultimativ zur Kurskorrektur oder zum Rücktritt aufgefordert. Wörtlich sagte Lafontaine: "Wenn Schröder seine gescheiterte Politik bis zur nächsten Bundestagswahl fortsetzt, wird es eine neue linke Gruppierung geben mit dem Ziel, den Sozialabbau rückgängig zu machen. Diese Gruppierung wird von mir unterstützt werden.”Saar-Genossen in Verlegenheit

Mit dieser unverhüllten Drohung hat der Streit zwischen der SPD und ihrem Ex-Chef einen neuen Höhepunkt erreicht. Selbst die Parteilinken schlugen sich am Sonntag auf die offizielle Seite und warnten Lafontaine, den Bogen zu überspannen. Lafontaine nehme eine "verhängnisvolle Zersplitterung der politischen Linken in Kauf”, schrieben die Parlamentarische Linke, die Jusos und das Forum Demokratische Linke in einer Erklärung. Allerdings ist die SPD-Linke bereits zersplittert und wird kaum noch ernst genommen. Während Oskar Lafontaine also dafür kämpfen will, "dass die SPD ihren Kurs ändert und endlich auf das Volk hört”, bringt er gleichzeitig die saarländischen Parteifreunde in Verlegenheit. An der Saar wird am 5. September gewählt, und ohnehin werden dem Landesvorsitzenden Heiko Maas kaum Chancen gegen Ministerpräsident Peter Müller (CDU) eingeräumt. Um die dennoch vergleichsweise gute Position der SPD nicht zu gefährden, hatte die Parteispitze - mit dem aktiven Wahlkämpfer Lafontaine - eine Art Stillhalte-Abkommen vereinbart: keine Attacken gegen Schröder und die Bundes-SPD. Doch Maas selbst hatte am vergangenen Freitag den "Mangel an sozialer Ausgewogenheit” der Agenda beklagt und sich damit von Berlin distanziert. Einer der schärfsten Gegner der Agenda, der ehemalige SPD-Bundesgeschäftsführer Ottmar Schreiner, erwartet derweil eine "neue Situation” für die SPD nach der Kommunalwahl in NRW. Er sagte am Sonntag in Berlin, sollten sich "die Folgen des Schwachsinns” noch stärker bemerkbar machen und die SPD wiederum Einbrüche erleiden, könnte der Druck auf die Parteispitze so zunehmen, dass Schröder und Müntefering reagieren müssten.

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