Einer, der nicht bereut

Er lebe in einer Scheinwelt mit eigenen Regeln, heißt es in dem Urteil gegen einen 22-jährigen Trierer, der seine Schwester fast erschlagen hat. Das Gericht verurteilte ihn zu einer Haftstrafe von viereinhalb Jahren.

Trier. Der Unterschied zu aus Deutschland stammenden Familien sei gar nicht so groß. Auch hier würden Mädchen schon früh zur Hausarbeit angehalten, während die Söhne mehr Freiheiten genössen. Die Strategie, die Rechtsanwalt Thomas Ehrmann verfolgt, ist klar. Er will weg von dem Vorwurf, der junge Mann, der neben ihm auf der Anklagebank im Saal 70 des Trierer Landgerichts sitzt, habe wegen kultureller oder religiöser Gründe die Familienehre verteidigt und deshalb seine vier Jahre jüngere Schwester im vergangenen Jahr fast totgeschlagen. Er hat sie getreten, geschlagen, mit den Füßen auf ihr herumgetrampelt, wie es ein Zeuge schilderte, und er hat ihr vor dem Haus der Eltern einen Pflasterstein auf den Kopf schlagen wollen. Das alles habe nichts mit einem "kulturbedingten Unterschied" der aus dem Irak stammenden fünfköpfigen Familie zu tun, sagt Ehrmann in seinem 35-minütigen Plädoyer. Der junge Mann habe sich immer "vorbildlich" um seine Schwester gekümmert. Sie sollte "eine emanzipierte, selbstbewusste Frau werden, keine unterdrückte".

1996 war die Familie nach Deutschland gekommen, geflüchtet vor der Drangsalierung durch das Terrorregime des damaligen irakischen Diktators Saddam Hussein. Der älteste Sohn muss alles für seine Eltern, die kaum Deutsch können, regeln. Er wird zum Stellvertreter des Vaters. Auch vor Gericht spricht er immer von "wir" und "uns", wenn es um seine Eltern geht. Die Schwester fügt sich aber nicht, verhält sich so wie viele pubertierende Mädchen: Kommt später aus der Schule heim, trifft sich mit Freunden, schwänzt auch mal den Unterricht. Sie verliebt sich in einen deutschen Jungen. Es kommt zu ständigen Auseinandersetzungen, sie darf nicht mehr aus dem Haus, wird wohl auch geschlagen. Ihr Vater droht ihr sogar damit, sie zwangsweise zu verheiraten - unklar, ob er es ernst meint. Sie habe es nicht mehr ausgehalten, sagt die junge Frau. Irgendwann verlässt sie die Familie, findet im Trierer Frauenhaus Unterschlupf. Damit habe sie die Familienehre verletzt, sagt der 22-Jährige zu Beginn des Prozesses. Es scheint, als sehe er nichts Unrechtes darin, die Schwester zu bedrohen, sie mit dem Kopf gegen eine Hauswand zu stoßen und sie brutal zusammenzuschlagen, um sie dazu zu bewegen, wieder nach Hause zu kommen.

Der 22-Jährige lebe in einer Scheinwelt nach seinen eigenen Regeln, sagt Oberstaatsanwalt Ingo Hromada. "Er hat sich ein Weltbild geschaffen, in dem die Tat kein Unrecht ist." Wegen des "hohen Gefährdungspotenzials" fordert er eine Haftstrafe von viereinhalb Jahren. Rechtsanwalt Thomas Ehrmann plädiert für eine Freiheitsstrafe unter zwei Jahren auf Bewährung, damit die Familie nicht zerstört werde. Doch das Gericht folgt dem Antrag des Staatsanwalts. Der Angeklagte sei "sehr uneinsichtig", sei "keiner, der bereut": "Er hat erhebliche Probleme mit der deutschen Rechtsordnung", sagt Richterin Petra Schmitz. Die Familie habe die Persönlichkeit der Tochter zerstört. Das hat sich auch während des Prozesses gezeigt. Die mittlerweile 18-Jährige nimmt ihren Bruder in Schutz, bezeichnet den fast tödlichen Angriff auf sie als Bagatelle und riskiert damit ein Verfahren wegen Falschaussage. Sie sei wieder in den Schoss der Familie zurückgekehrt und ihrem Druck ausgeliefert, sagt die Richterin.

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