Emanzipierte Männer

TRIER. Typisch deutsch - was ist dran am Klischee von der Lederhosen- und Biertrinker-Nation? In einer wöchentlichen Kolumne lässt der TV Ausländer zu Wort kommen, die meist seit Jahren bei uns leben. Sie nehmen die kleinen, aber feinen kulturellen Unterschiede auf die Schippe und schildern humorvoll ihre Erfahrungen mit den Menschen der Region.

Als ich nach Deutschland kam, war ich bereit, jeden Tag Sauerkraut zu essen und literweise Bier zu trinken. Es war mir klar, dass man viel und schnell arbeiten muss, sparsam und schweigsam ist, Dirndl trägt und nie dem Vorgesetzten oder dem eigenen Mann widerspricht. Die Überraschung wartete auf mich gleich am ersten Tag des Intensiv-Sprachkurses: Die Lehrerin kam zwölf Minuten zu spät. Und sie trug eine Hose, mit der russische Frauen wandern gehen oder renovieren, aber nicht an der Tafel stehen. Die feine Dame hat zur Begrüßung ein zusammengeknicktes Papierchen aus der Tasche gezogen und sich damit die Nase geputzt. Welch ein Kulturschock! Heutzutage sind Tempo-Taschentücher für mich genauso unverzichtbar, und ich scheue mich nicht mehr davor, mir in der Öffentlichkeit die Nase zu putzen. Ich weiß, dass es kein Beinbruch ist, begründet etwas zu spät zu kommen. Und ich trage ebenso gerne eine Hose, wenn ich will, dass man mir in die Augen schaut und mir zuhört, anstatt mir ins Dekollete zu glotzen. Ich habe mich daran gewöhnt, dass es auf den Straßen zum Teil so viele schwarzhaarige und braunäugige Menschen gibt, dass man den Eindruck hat, es läuft in der Stadt ein Orientalisten-Kongress. Und es wundert mich auch nicht mehr, wenn die Sprecherin eines einwandfreien moselfränkischen Dialektes eine Frau mit braunem Teint und schwarzen Haaren ist. Anders als in Russland halten deutsche Männer den Frauen keine Türen auf und helfen ihnen nicht in die Mäntel. Für Russen ebenfalls unvorstellbar: Die Deutschen zahlen oft nicht für die Frauen. Nun ja, sie sehen die Frau eben als einen gleichwertigen Partner. Oder tun zumindest so. Deutsche Männer helfen im Haushalt (wenn kein Fußball läuft), manche nehmen sogar Vaterschaftsurlaub. Eine meiner größten Befürchtungen war, dass ich Witze nicht verstehen werde - doch der deutsche und der russische Humor sind sehr ähnlich. Die Deutschen sind Genießer. Sie legen Wert auf gutes Essen, bequemes Leben und Treffen mit Freunden. Man schämt sich im Ausland für sein Deutschsein, ist aber insgeheim doch stolz. Zu Recht: Menschen, die so viele Ausländer beherbergen, gerne spenden, sich in Vereinen und Clubs treffen, sich sozial engagieren sind beispielhaft. Die begeisterten Klowärmer-Strickerinnen, massenhaften Brillenträger und Aldi-Erfinder sind zudem die besten Fußballspieler (ich hoffe, das liest kein Brasilianer), die bekanntesten klassischen Musiker und die fortschrittlichsten Autohersteller (da sind wir uns einig).

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