Enttarnung von Tonfall, Tinte und Tobago

Berlin · Bundestagsabgeordnete haben gestern beim Bundesamt für Verfassungsschutz 45 Akten einsehen dürfen. Ein absolutes Novum. Sie gewannen Erkenntnisse - doch spektakuläre Entdeckungen blieben aus.

Berlin. Das Kasernengelände am Treptower Park in Berlin ist gut bewacht. Hohe Zäune und Stacheldraht schützen das Areal, Kameras haben jeden Winkel im Blick. Aus gutem Grund: Mitten im Grünen tummeln sich deutsche Geheimdienste. Das Bundeskriminalamt, das Terrorabwehrzentrum und das in Verruf geratene Bundesamt für Verfassungsschutz sind dort präsent. Gestern öffneten sich die Tore der Kaserne ausnahmsweise für Abgeordnete des Bundestags-Untersuchungsausschusses zur Mordserie der Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU). Die Akten, die sie einsehen durften, lagen im schnöden Funktionsbau des Verfassungsschutzes schon bereit. Die Parlamentarier wühlten, fanden aber Befürchtetes nicht.
Es sei "ein Novum", so Unions-Obmann Clemens Binninger, dass man Dokumente einsehen könne, "die sich die Sicherheitsbehörden vermutlich nicht einmal untereinander zeigen". So immens ist inzwischen der Druck auf den Verfassungsschutz, dessen Existenz von immer mehr Politikern infrage gestellt wird. 45 Akten lagen den Abgeordneten vor: Zu Anwerbeversuchen des Inlandsgeheimdienstes, zum rechtsextremen Thüringer Heimatschutz, dem auch das Terror trio Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt bis zu ihrem Untertauchen 1998 angehörte, sowie zur "Operation Rennsteig", mit der der Verfassungsschutz zwischen 1997 und 2003 acht V-Leute im Umfeld der Thüringer Neonazi-Gruppe im Einsatz hatte. Aus den Dokumenten ließ sich auch zusammenreimen, was in sieben weiteren Ordnern gestanden haben muss, die ein Referatsleiter des Verfassungsschutzes nach Auffliegen des Zwickauer Terrortrios im November vergangenen Jahres geschreddert hatte.
Ein Teil der Akten hatte dem Ausschuss schon vorgelegen, allerdings geschwärzt. Gestern in Treptow konnten die Papiere ungeschwärzt gesichtet werden. Besonders interessant waren die Ordner zu den acht V-Leuten. Erstmals konnten ihre Klarnamen gelesen werden, denn bislang waren nur Tarnbezeichnungen wie Treppe, Tobago, Tonfall oder Tinte bekannt. Befürchtungen, dass die drei Terroristen selbst V-Leute gewesen sein könnten, bestätigten sich nicht. Der Ausschussvorsitzende Sebastian Edathy (SPD) betonte nach der Durchsicht: Keiner der geführten V-Leute stehe "auf der Liste der beschuldigten Personen", weder als Mitwisser noch als Angehöriger der NSU.
Weitere Erkenntnisse erhofft man sich nun von Dokumenten des Militärischen Abschirmdienstes sowie von zwei Vernehmungen heute: Der für die Aktenvernichtung zuständige Referatsleiter soll morgens vernommen werden. Seine Befragung findet ohne Öffentlichkeit statt. Auch An- und Abfahrt des Mannes erfolgen aus Sicherheitsgründen unerkannt. Gegen Mittag wird dann der zurückgetretene Verfassungsschutzpräsidenten Heinz Fromm vernommen.

Extra

In der Affäre um vernichtete Akten über Neonazis liegt eine Strafanzeige gegen Verfassungsschutz-Mitarbeiter vor. Der Anwalt von Hinterbliebenen eines Mordopfers habe die Anzeige bei der Bundesanwaltschaft eingereicht, sagte ein Sprecher der Behörde gestern in Karlsruhe. Die Anzeige richte sich gegen noch unbekannte Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz. dpa

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