"Er bleibt ein Wirtschaftsliberaler"

BERLIN. Horst Köhler war auf Seite 2 seines Redemanuskripts, als durch den Saal des Berliner Estrel-Hotels ein erstes Raunen ging. Er bleibe dabei, rief der Bundespräsident den 400 Delegierten des DGB-Kongresses zu: "Verständigen wir uns auf eine politische Vorfahrtsregel für Arbeit." Was Arbeitsplätze schaffe, müsse Vorrang vor allem anderen haben. "Und sei es noch so wünschenswert."

So klang es auch schon vor 14 Monaten aus dem Munde des Staatsoberhauptes. Damals sprach Köhler auf dem Arbeitgebertag in Berlin. Und die Gewerkschaften waren über seinen wirtschaftsliberalen Exkurs ziemlich sauer. Warum sollte es diesmal anders sein? Als Grundsatzrede hatten Köhlers Vertraute den präsidialen Auftritt im Vorfeld charakterisiert. Wohl auch deshalb, weil der erste Mann im Staat schon seit einiger Zeit nichts mehr Grundsätzliches von sich hören ließ. Am heutigen Dienstag vor genau zwei Jahren wurde Köhler als neunter Bundespräsident der Bundesrepublik gewählt. Doch die anfängliche Euphorie ist längst der Ernüchterung gewichen. Schon werden Unmutsäußerungen aus der SPD über Köhlers vermeintliche Profillosigkeit kolportiert. Das erhöhte natürlich den Erwartungsdruck. Allein, der Präsident blieb bei seinem Drehbuch. Schon vor den Arbeitgebern hatte er gegen Bürokratie gewettert und eine Senkung der Lohnnebenkosten verlangt. Eine Abkoppelung der Sozialbeiträge von den Arbeitskosten hielt Köhler ebenfalls für geboten. All das tauchte auch diesmal in seiner Rede auf. Und Köhler vergaß auch nicht die von den Gewerkschaften angefeindete "Agenda 2010" als Schritt in die richtige Richtung zu loben. Damit geriet sein Auftritt über weite Strecken zum Kontrastprogramm gegen DGB-Chef Michael Sommer, der die große Koalition in seinen Begrüßungsworten ausdrücklich vor einer Einfrierung des Arbeitgeberbeitrages beim Krankenkassenbeitrag warnte und eine Rückabwicklung der Aufweichung des Kündigungsschutzes verlangt hatte. Wer genau hinhörte, dem mochte Köhler in manchen Passagen aber auch als Gewerkschafter aus der Seele gesprochen haben. Zum Beispiel, als der Bundespräsident auf die Höhe mancher Manager-Gehälter zu sprechen kam. Ihm sei "bewusst, wie schwer es ist, Arbeitnehmern Mäßigung und Lohnzurückhaltung zu empfehlen, wenn andere gerade kein Maß mehr zu kennen scheinen", bekannte Köhler. "Ganz verquer" sei es, wenn die immense Vergütung auf eben jener Lohnzurückhaltung der Arbeitnehmer und Entlassungen beruhe. Da regte sich im Saal zaghafter Beifall. Auch die große Koalition bekam ihr Fett weg. Nach dem Beschluss des Bundestages vom vergangenen Freitag wünsche er sich, dass die zusätzlichen Einnahmen "hauptsächlich" zur Senkung der Lohnnebenkosten verwendet werden, sagte Köhler. Schwarz-Rot hat das Gegenteil verabredet: Von der ab 2007 geltenden Anhebung der Mehrwertsteuer um drei auf 19 Prozent soll lediglich ein Drittel der zusätzlichen Einnahmen für die Senkung des Beitrages zur Arbeitslosenversicherung verwendet werden. Bei der Rentenversicherung ist zum gleichen Zeitpunkt sogar eine Beitragserhöhung geplant. Der Schlussapplaus für Köhler fiel denkbar mager aus. "Das war der liberale Ökonom", stöhnte ein alt gedienter Spitzengewerkschafter. Ihn wurmte vor allem, dass der Präsident zwar "mehr Respekt" für die Menschen mit Niedriglohnjobs verlangt hatte, sich aber darüber ausschwieg, wie man von einem Stundenverdienst von nicht einmal vier Euro existieren könne. "Was heißt hier Respekt? Da kann ich mir nichts runterbeißen", schimpfte der DGB-Funktionär. "Deshalb gebrauchen wir einen Mindestlohn". Davon hatte Köhler nicht gesprochen.

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