Ernst nehmen

Wie gefährlich sind Masern, Mumps, Windpocken und andere Viruserkrankungen wirklich? Sind es nicht die harmlosen Kinderkrankheiten, für die sie landläufig gehalten werden? Nachdem durch die Masern-Epidemie in Nordrhein-Westfalen aufs Neue eine Impf-Debatte in Deutschland entbrannt ist, könnte man vermuten, dass die Viren mutiert sind und eine bislang unbekannte Gefahr darstellen.

Deutschland steht plötzlich als Impf-Entwicklungsland da. Kritisch eingestellte Eltern und Impfverweigerer stehen am Pranger, sie sollen Schuld daran sein, dass sich seit Jahren bekannte Viren rasend schnell ausbreiten. Etwas mehr Ruhe täte der überhitzten Diskussion ganz gut. Zunächst muss man festhalten, dass es sich um eine lokal begrenzte Epidemie handelt, wie sie immer wieder auftritt. Masern, Windpocken und Co. sind nach einhelliger Meinung auch nicht gefährlicher geworden, als sie es vor Jahrzehnten waren. Komplikationen und Todesfälle sind noch immer die Ausnahme. Selbstverständlich ist jedes Kind, das an Masern stirbt, eines zu viel. Und wenn man ein solches Drama durch Impfung verhindern kann, ist das ein Erfolg. Doch viele Eltern sind ratlos. Sie, die einst selbst fiebrig und mit roten Punkten im Gesicht im Bett lagen und die Masern ohne Folgen überstanden haben, fragen sich, ob es denn wirklich nötig ist, die Kleinen gegen die altbekannten Kinderkrankheiten zu impfen. Die Befürworter machen es ihnen dabei nicht ganz einfach. Denn viele Studien, die sie heranziehen, sind von der Pharma-Industrie finanziert worden. Das hat natürlich einen Beigeschmack. Auch lässt offenbar die Aufklärung in Praxen zu wünschen übrig. Über den Sinn des Impfens wird oft erst gar nicht diskutiert. Aber auch die radikalen Gegner und Kritiker tragen zur Verunsicherung der Eltern bei. Ist das Risiko des Impfens tatsächlich größer als, an einer Krankheit zu erkranken, die man seinem Kind durch einen kleinen Pieks womöglich ersparen kann? Als Beweise für die provokanten Thesen der Impfgegner müssen Einzelfälle herhalten. Die Impfgegner sollten einfach akzeptieren, das sich viele Eltern verständlicherweise dafür entscheiden, ihren Kindern durchs Impfen wenigstens ein paar Krankheiten zu ersparen. Schulmediziner sollten kritische Eltern aber auch ernst nehmen. Ihre Bedenken sollten für sie Ansporn sein, sie ehrlich aufzuklären über Vorteile und Risiken. Man sollte sie nicht als unverantwortliche Mütter und Väter abtun, sondern in ihnen eine Herausforderung sehen, echte Überzeugungsarbeit zu leisten und akzeptieren, wenn sie sich doch anders entscheiden. Auch sollte nicht von vorneherein alternative Medizin und ihre Methoden als Scharlatanerie verurteilt werden. Mehr Toleranz und weniger Ideologie auf beiden Seiten könnte womöglich mehr Eltern dazu bewegen, ihre Kinder pieksen zu lassen. b.wientjes@volksfreund.de

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