"Erzähl mir keiner was vom Krieg"

SCHWEICH-ISSEL. Wie kommt einer später im Leben zurecht, wenn er mit 14 Jahren Zeuge von Vergewaltigungen und Erschießungen wird? "Nie kann man das vergessen", sagt Georg Ulbrich, Jahrgang 1930, in der neuen TV -Serie "Lebenswege".

Er ist das, was man ein gestandenes Mannsbild nennt. So leicht wirft Georg Ulbrich nichts um. Doch wenn er von diesen schrecklichen Wochen und Monaten Anfang 1945 in Schlesien erzählt, kämpft er mit den Tränen. Er wohnte mit seiner Familie in Bettlern, einem Dorf mit 950 Einwohnern, rund zehn Kilometer von Breslau entfernt. Breslau ist zwei Monate umkämpft, bevor die russische Armee im Mai 1945 die Stadt eroberte. Zuvor zieht die Sowjetarmee den Ring um die Stadt immer enger. Die russischen Soldaten gehen teilweise mit unglaublicher Brutalität vor: "Erst vergewaltigten sie die Frauen. Meinen Vater erschossen sie. Er zeigte ihnen russische Flugblätter, auf denen in deutscher Sprache zu lesen war, dass die Zivilbevölkerung nichts zu befürchten habe. Aber die Russen konnten die deutsche Schrift gar nicht lesen. Die Russen ließen meinen toten Vater auf der Straße liegen. Die Armeefahrzeuge und die Flüchtlingstrecks fuhren über ihn weg. Nach sechs Wochen, als wir nach einer langen Irrfahrt wieder in unserem Dorf waren, konnten meine Mutter und ich ihn beerdigen. Wir trugen ihn in einem Bettlaken zum Friedhof." Hunderttausende sind damals unterwegs Richtung Westen. Mit einem Flüchtlingszug landen sie in der Nähe von Radeburg in einem Dorf, werden in ein Bauernhaus eingewiesen. Der Bauer lässt sie nicht mal ins Haus. Die Polizei muss kommen: "Hier gibt es nur Sand und Wald", sagte meine Mutter. "Hier können wir nicht bleiben." Die Mutter fährt in den Harz. Dort ist auch Ulbrichs Großmutter mit einem anderen Flüchtlingszug gestrandet. Als sie zurück kommt, sagt sie: "Dort gibt es Vieh und Äcker. Da müssen wir hin." Die Familie siedelt unter abenteuerlichen Umständen in den Harz um. Und Georg Ulbrich, inzwischen fünfzehn Jahre alt, schleicht sich über die Grenze zwischen der sowjetischen und britischen Besatzungszone. Er besucht seinen Onkel in der Nähe von Peine und Hannover. Er will einen Beruf erlernen. Doch mit einer Lehrstelle wird es nichts. Georg Ulbrich arbeitet dann fast drei Jahre lang auf verschiedenen Bauernhöfen, mehr oder weniger für ein Taschengeld und die Verpflegung. Bis der Sohn einer Flüchtlingsfamilie, der im Ruhrpott im Bergbau unter Tage arbeitet, zu ihm sagt: "Für die paar Kröten hier beim Bauern schuften. Sei nicht blöd. Komm zu uns." Georg Ulbrich erinnert sich: "Damals war Kohle Gold. Die Arbeit unter Tage war hart, aber gut bezahlt." Er kann sich sogar ein Motorrad leisten: "Eine 250er DKW. Die kostete damals 2000 Mark." Mit seinem Freund Paul, ebenfalls einem Bergmann, fährt er nach Bitburg. Dort hat Paul Schmied gelernt. Und er erinnert sich auch an die Tochter des Schmiedes, die eine Freundin hat. Das war Magdalena. Sie wurde die spätere Frau Ulbrich.Ins Wirtschaftswunder mit 250er DKW gestartet

Ulbrich findet einen Job in der Mühle in Schweich, arbeitet dann als Lkw-Fahrer. 1955 die Heirat. Seine Frau arbeitet im Haushalt. Jede Mark wird für den Hausbau gespart. Das Haus, in dem sie heute noch wohnen, baut er allein, Stein auf Stein. Nur ein Maurer hilft ihm gelegentlich. Die Finanzierungskosten bedrücken die junge Familie: "Der Mann, der die Heizung geliefert und eingebaut hatte, verlangte mit Recht sein Geld. Ich schlug ihm vor: ,Bauen Sie die Heizung wieder aus und liefern Sie sie, wenn ich das Geld zusammen habe.‘ Der hat das gemacht. Wir haben die Zeit ohne Heizung auch überlebt, wie so vieles." Bis 1966 arbeitet er als Lkw-Fahrer. Dann macht er sich selbstständig, gründet den "Landesprodukte und Eierhandel Ulbrich" und fährt künftig mit einem Lieferwagen über Land. Manchmal verkauft er 20 000 Eier in der Woche, zentnerweise Kartoffeln und die anderen Güter des täglichen Bedarfs. 1990, da ist er 62 Jahre alt, hört Georg Ulbrich auf. Seine beiden Söhne Heinz und Norbert sind in die Firma eingestiegen. Morgens um 6.30 Uhr werden die Autos mit frischem Gemüse und anderen Lebensmitteln beladen. Und dann fahren sie ihre Tour durch den ganzen Kreis Trier-Saarburg - wie früher der Vater. Im Wohnzimmer von Magdalena und Georg Ulbrich hängt ein wunderschönes Foto. Die ganze Familie im flirrenden Sommerlicht unter einem Baum. Die stolzen Eltern und Großeltern in der Mitte. Georg Ulbrich sagt: "Ich bin stolz auf die Familie. Alle meine Kinder sind ordentliche und tüchtige Menschen geworden." Acht Kinder hat er, 17 Enkel. "Aber nie werde ich vergessen, wie sie meinen Vater erschossen haben und wie ich ihn als Vierzehnjähriger mit meiner Mutter in einem Bettlaken beerdigt habe. Erzähl mir keiner was vom Krieg. Gebe Gott, dass meine Kinder nichts Ähnliches erleben müssen."

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