Es fließen sogar Tränen

Berlin · Ein bewegender Tag war das gestern für Joachim Gauck. Obwohl mehr als 100 Delegierte aus dem Lager der Union sich bei der Präsidentenwahl enthielten, sagte Gauck im Anschluss: "Ich bin sehr glücklich. Alles andere wäre auch in der Nähe von DDR-Wahlergebnissen gewesen."

Berlin. Joachim Gauck benötigt noch ein paar Momente der Besinnung. Eine halbe Stunde bevor Bundestagspräsident Norbert Lammert das Ergebnis zur Wahl des elften Bundespräsidenten verkündet, sucht Gauck die kleine Kapelle im Südflügel des Reichstages auf. Für ein stilles Gebet, für etwas innere Einkehr. Als der ehemalige Pfarrer den Andachtsraum nach wenigen Minuten wieder verlässt, wirkt er gelöster. Gauck geht zurück in den Saal mit dem schlichten Namen Empfangsraum. Dort muss er warten, bis alle 1240 Wahlleute in der Bundesversammlung ihre Stimme abgegeben haben, und bis ausgezählt worden ist.
Er hat seine Familie und seine Freunde um sich geschart. Immer an seiner Seite: Lebensgefährtin Daniela Schadt. Die Enkelkinder tollen herum, Gaucks Söhne schießen Erinnerungsfotos; es gibt Sekt, Säfte, Kuchen und kleine Spieße. Beim Blick aus dem Fenster sieht Gauck, der Bürgerrechtler, das Brandenburger Tor, erst das Symbol der deutschen Teilung, jetzt der Freiheit und der Einheit. Draußen flanieren gut gelaunt die Menschen, deren Präsident er sein wird. Bei strahlendem Frühlingswetter. "Was für ein schöner Sonntag", wird sein erster Satz als Staatsoberhaupt sein, nachdem er um 14.24 Uhr die Wahl angenommen hat.
108 Enthaltungen, das ist die leichte Wetterstörung an diesem wieder einmal in der deutschen Geschichte so historischen 18. März. Niemand hat damit gerechnet, im Gegenteil, ein Ergebnis von 90 Prozent und mehr ist erwartet worden. Nun sind es "nur" rund 80 Prozent.
Spekulationen um Abweichler


Unmittelbar nach Ende der Versammlung, beim Buffet unter der Reichstagskuppel, wird spekuliert. Die Liberalen verweisen auf den Erzfeind Grüne. Gaucks Kritik an der Occupy-Bewegung, dazu sein Lob für Thilo Sarrazin, "das haben dem jetzt welche heimgezahlt", meint eine FDP-Abgeordnete. Doch Claudia Roth, Parteichefin der Grünen, weist diesen Verdacht von sich. "Bei uns wird nicht mit verdeckten Karten gespielt", sagt sie. Zwei grüne Abgeordnete hätten offen ihre Enthaltung angekündigt. "Das war\'s von unserer Seite."
So richten denn auch viele den Blick auf die Union. Manche Christdemokraten hätten den schnellen Schwenk - vor zwei Jahren gegen Gauck, jetzt für ihn - nicht mitmachen wollen und andere vielleicht ein Problem damit, dass er unverheiratet mit seiner Lebensgefährtin zusammenlebt. Es gibt viele Theorien, aber keine Beweise. Die Wahl ist und bleibt geheim.
Während der Abstimmung gleicht die Lobby einem Ameisenhaufen. Spitzenpolitiker aller Parteien eilen von Fernsehstation zu Fernsehstation, um zu erklären, warum sie Gauck gut finden und was sie von ihm erwarten. Einmal stehen SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier und sein CDU-Kollege Volker Kauder praktisch Rücken an Rücken vor unterschiedlichen Sendern. Steinmeier triumphiert, dass man "diese Wahl schon vor zwei Jahren hätte haben können". Fast zeitgleich sagt Kauder vor dem anderen Sender: "Alles hat seine Zeit." Die Schauspielerin Senta Berger erzählt in eine Kamera, dass sie sich völlig frei fühle zu wählen, wen sie will, es gebe keinen Fraktionszwang bei der SPD. "Aber ich bin für Gauck." Alice Schwarzer, die Frauenrechtlerin, sagt, sie wünsche sich einen "lebendigen Bundespräsidenten, über den ich mich manchmal auch ärgere". Eine Aussage ist fast allen, die hier interviewt werden, gemein: Die Hoffnung, dass dieser Bundespräsident nicht wieder vorzeitig abtreten muss, dass Gauck das Amt wieder stabilisiert.
Bundestagspräsident Lammert hat das schon in seiner Eingangsrede intoniert. Er lässt kurz die Wulff-Affäre Revue passieren und sagt, dass ein endgültiges Urteil darüber erst "mit Abstand" gefällt werden kann. Aber dass man hoffen muss, jetzt wieder in den vom Grundgesetz vorgegebenen fünfjährigen Turnus zurückzukehren. Das sorgt auch für viel Heiterkeit. Und da sei es vielleicht "eine glückliche Fügung", so Lammert weiter, dass man durch die Rücktritte von Horst Köhler und Christian Wulff jetzt beim 18. März als Wahltag angekommen sei. Er listet auf, dass der 18. März der Tag der Märzrevolution von 1848 und der ersten freien Volkskammerwahlen 1990 in der DDR ist. Ein großer freiheitlicher Tag also. Auch für Gauck, der dieses Datum später in seiner kurzen Rede würdigt. Seitdem habe er sich geschworen, "niemals eine Wahl zu versäumen".
Lammert ist es auch, der, kurz bevor er das Wahlergebnis verkündet, Gauck noch einmal im Empfangsraum aufsucht. Alles glatt gegangen, ist seine Botschaft. Gauck wird von seiner Familie geherzt, gedrückt, umarmt. Danach begeben sich die Angehörigen auf die Zuschauerränge, die Klingeln im Reichstag schrillen schon. Erste Tränchen rollen. Gauck folgt und wählt den Eingang in den Plenarsaal, den auch die Kanzlerin immer nimmt. Die neue First Lady Daniela Schadt muss zurück auf die Tribüne.
Als Lammert das Resultat vorliest, sitzt der Bürger Gauck in der Mitte des Plenums, er knetet seine Hände. Endlos lang mag ihm das alles jetzt vorkommen. 991 Stimmen für ihn. Jubel brandet auf, Blumensträuße werden hineingetragen.
Ausgerechnet Otto Rehhagel, der Hertha-Trainer, gehört mit zu den ersten, die Gauck gratulieren wollen. Angela Merkel muss ihn richtig zur Seite schieben. Renate Künast küsst den neuen Präsidenten sogar auf die Wange. Während er dann spricht, zittert zwei-, dreimal, seine Stimme. Glücksgefühle scheinen ihn da zu überwältigen - was für ein schöner Sonntag.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort