"Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz"

Berlin · Vor 70 Jahren hat die Rote Armee das Konzentrationslager in Auschwitz befreit. Der Bundestag hat daran in einer Gedenkfeier erinnert. Bundespräsident Joachim Gauck kritisierte auch die Pegida-Demonstranten.

Berlin. Marian Turski sitzt in der ersten Reihe auf der Zuschauertribüne und hört angespannt zu. Der 88jährige polnische Jude hat selbst erlitten, wovon unten im Saal mit eindringlichen Worten die Rede ist. Die Nazis hatten Turski zunächst in ein Ghetto gesteckt und im Sommer 1944 ins KZ Auschwitz deportiert. Bis zum Kriegsende wurden dort mindestens 1,1 Millionen Menschen umgebracht. Am 27. Januar 1945, also gestern vor 70 Jahren, erreichte die Rote Arme das Vernichtungslager und machte dem mörderischen Wahnsinn ein Ende. Der Bundestag erinnert daran in einer Gedenkstunde. Deshalb ist Turski jetzt hier.
Joachim Gauck weist auf die vielen Zeitzeugen hin, die im Bundestag schon zu Wort gekommen sind. Vor fast zwei Jahrzehnten hatte das Parlament erstmals mit einem eigenen Gedenktag an die Opfer der nationalsozialistischen Barbarei erinnert. Seitdem haben immer wieder Überlebende bei den Gedenkstunden gesprochen. Große Namen wie Imre Kertesz, Elie Wiesel oder Marcel Reich-Ranicki. "Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz", sagt der Bundespräsident. Der Ort sei zum Symbol für den Holocaust geworden. Die allermeisten Bundesbürger sehen das freilich anders. Nach einer aktuellen Umfrage der Bertelsmann-Stiftung würden 81 Prozent die Geschichte der Judenverfolgung lieber "hinter sich lassen" und sich den gegenwärtigen Problemen widmen. Gauck geht darauf indirekt ein: Verschweigen tilge kein "offenkundiges Verbrechen" und auch nicht "offenkundige Schuld", mahnt er und gibt ein persönliches Bekenntnis ab: "Solange ich lebe, werde ich darunter leiden, dass die deutsche Nation mit ihrer so achtenswerten Kultur zu den ungeheuerlichsten Menschheitsverbrechen fähig war".
Was folgt, ist ein Exkurs über den jeweiligen Umgang mit dem braunen Erbe, als es noch zwei getrennte deutsche Staaten gab. In den Jahren des Wirtschaftswunders hätten im Westen "zu viele Menschen nur nach vorn" geschaut und "zu wenige auch zurück", kritisiert Gauck. Auch das Wiedergutmachungsabkommen mit Israel sei in der jungen Bundesrepublik "keineswegs populär" gewesen, wie auch die juristische Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen "letztlich sehr unbefriedigend" geblieben sei. An anderer Stelle in Gaucks Rede sollen sich die Pegida-Demonstranten angesprochen fühlen. Gauck unterstreicht, dass man sich "jeder Art von Ausgrenzung" entgegen stellen müsse. Zumal in Zeiten, in denen es erneut um das "Miteinander unterschiedlicher Kulturen und Religionen" gehe.Extra

Bei der zentralen Gedenkveranstaltung des Landes im Mainzer Landtag hat Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) gestern den gesellschaftlichen und politischen Auftrag betont, Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen. Eine Lehre sei, Menschen zu helfen, die Hilfe nötig hätten. "Wir haben eine gemeinsame Verantwortung dafür, dass die Verbrechen der Nationalsozialisten und das Leid der Opfer nicht vergessen werden", sagte Dreyer. Oppositionsführerin Julia Klöckner (CDU) strich heraus, die systematischen Verbrechen an Millionen Menschen verjährten nicht. "Es ist gut, dass wir eine starke Kultur des Erinnerns leben."fcg

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