"Es ist alles so normal"

New York · In New York steht der Sprecher Osama bin Ladens vor einem Richter. Für Rita Lasar, deren Bruder am 11. September in den Zwillingstürmen ums Leben kam, ist es der Beweis, dass die Stadt einen Al-Kaida-Prozess führen kann, ohne im Belagerungszustand zu erstarren.

New York. Rita Lasar starrt auf einen Rücken. Kerzengerade sitzt sie auf einer harten Holzbank und bohrt ihre Blicke in den Rücken des Mannes drei Reihen vor ihr. Grauer Anzugstoff, eine sorgfältig polierte Halbglatze, mehr ist aus ihrer Perspektive nicht zu erkennen. Auf dem Tisch vor dem Mann steht ein Flachbildschirm, über den körnige Videobilder flimmern, Bilder einer live zugeschalteten Zeugenvernehmung in London. Von hinten wirkt der Angeklagte, als wäre er selber ein Anwalt, nach Kleidung und Habitus kaum zu unterscheiden von den beiden Verteidigern zu seiner Linken.
"Es ist alles so normal", sagt Rita Lasar in einer Verhandlungspause. "Keine Handschellen, keine Fußfesseln, keine Marineinfanteristen, die Wache halten. So völlig anders als in Guantánamo."
Daniel Patrick Moynihan Building, Saal 26 A, im 21. Stock eines Gerichtsgebäudes. Der Mann im feinen Zwirn heißt Suleiman Abu Ghaith. Er war der Sprecher Osama bin Ladens, er wird beschuldigt, zur Tötung von Amerikanern angestiftet zu haben. "Die Stürme werden nicht aufhören, besonders die Flugzeugstürme", drohte er am 12. September 2001, am Tag nach den Terrorangriffen auf New York und Washington. Muslime, Kinder und Kritiker der Vereinigten Staaten wären besser beraten, würden sie "kein Flugzeug besteigen und nicht in einem Hochhaus wohnen".
Das Innenleben von Al-Kaida


Nach seiner Flucht aus Afghanistan versteckte sich der Kuwaiti jahrelang in Iran, bevor er im Februar 2013 nach Ankara reiste, wo er verhaftet wurde. Seit Anfang März sitzt Abu Ghaith im Saal 26 A, vor Lewis Kaplan, einem Bundesrichter. Ihm schildert, aus London zugeschaltet, Saajid Badat das Innenleben Al-Kaidas, erzählt von Sprengstoffübungen in Kandahar, von Propagandafilmen, von Treffen mit bin Laden und Khaled Scheich Mohammed, KSM, dem mutmaßlichen Chefplaner der 9/11-Attacken. Detailliert beschreibt er, wie KSM in einem Almanach der höchsten Gebäude der Welt blätterte und grinsend auf die Zwillingstürme zeigte - "die gehören bald nicht mehr dazu".
Der Brite Badat sollte an Bord einer Transatlantikmaschine eine Schuhbombe zünden, ähnlich wie Richard Reid, den Passagiere überwältigten, als er es versuchte. Er besann sich eines Besseren, kam hinter Gitter und wurde nach sechs Jahren vorzeitig entlassen, da er mit den Terrorfahndern kooperierte. Badat soll erklären, welche Rolle Abu Ghaith im Netzwerk Bin Ladens spielte.
Für Rita Lasar ist schon die Verhandlung Beweis genug, der Beweis nämlich, dass ein Al-Kaida-Prozess im Herzen New Yorks stattfinden kann, ohne die Stadt im Belagerungszustand erstarren zu lassen. Hätte das Kabinett Barack Obamas am ursprünglichen Plan festgehalten, würde hier auch KSM vor Gericht stehen.
Rita Lasar ist extra nach Guantánamo geflogen, um ihn auf der Anklagebank zu sehen. Es hat ihr keine Genugtuung verschafft. KSM, sagt sie, hätte nie nach Gitmo gehört. "Diese Militärkommissionen dort, das ist doch alles Mist. Mist, bitte schreiben Sie das." Abu Ghaith in Manhattan, das sei ein schwacher Ersatz. Aber besser als nichts. Und eben ein ordentliches Verfahren, was allein schon zähle.
Dass Rita Lasar ganze Tage im Saal 26 A verbringt, hat mit dem Tod ihres Bruders zu tun. Abraham Zelmanowitz, Programmierer beim Versicherungskonzern Blue Cross & Blue Shield, saß in der 27. Etage des Nordturms, als das erste Flugzeug ins World Trade Center krachte. Statt die Treppe hinabzusteigen, blieb er bei seinem Kollegen Edward Beyea, um auf Sanitäter zu warten, die den Querschnittsgelähmten im Rollstuhl nach unten tragen würden ...
Noch zwei Monate danach hatte Rita Lasar in ihrem Appartement die Jalousien heruntergelassen. Der Schock, die Angst, die Paranoia - es war typisch für New York. Aber aus dem Massenmord hat Rita Lasar andere Schlüsse gezogen als die meisten New Yorker. Vier Monate nach 9/11 reiste sie nach Afghanistan, um zu begreifen, wie sich Heranwachsende in einem vom Krieg verwüsteten Land fühlen. Im Saal 26 A versucht sie zu verstehen, was einen Mann ideologisch derart verblendet, dass er Terror predigt. "All diese Phrasen, die vorgeschobenen Gründe, die ganze Gruppenpsychologie. Dabei ging es doch nur darum, Menschen zu töten."

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