EU-Feinstaub-Klage noch nicht vom Tisch

Brüssel · Zu viel Stickoxide, zu viel Feinstaub in der Luft zahlreicher deutscher Städte: Derzeit laufen zwei Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission gegen Deutschland, weil die Grenzwerte in vielen Fällen - unter anderem auch im Rhein-Main-Gebiet, überschritten werden. Die Kommission will Beweise sehen, dass die von den Städten geplanten Gegenmaßnahmen greifen.

Brüssel. Spätestens seit Freitagabend weiß die halbe Republik, dass Stuttgart Deutschlands Feinstaub-Hauptstadt ist. Aus Abgasschwaden heraus berichtete ein Reporter der "Heute Show" satirisch über das Neckartor und pries seinen Todesmut, ohne Atemmaske durch die Landeshauptstadt zu laufen. Neu freilich ist die Überschreitung der seit 2005 geltenden EU-Grenzwerte nicht: Bereits vor einem knappen Jahr hat die Brüsseler Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland verschärft und neben Leipzig ausdrücklich Stuttgart als Grund genannt. Einher ging das mit der dringenden Aufforderung, Gegenmaßnahmen einzuleiten - sonst drohe eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg.
Info-Kampagnen, Tempolimits


Für den seit Sommer vorliegenden Aktionsplan hat nun Baden-Württembergs Verkehrsminister Winfried Hermann am Montag in Brüssel geworben. Der Grüne traf sich mit Vertretern der Umwelt- und Verkehrsressorts, um die EU-Behörde zu überzeugen, dass die Feinstaubbelastung mit den eingeleiteten Maßnahmen bis 2021 unter den Grenzwert gedrückt werden kann, der allein bis Mitte September an 45 Tagen überschritten wurde, obwohl pro Jahr nur 35 "Feinstaubtage" zulässig sind: Im Herbst beginnt eine Informationskampagne, ab Januar wird bei bestimmten Wetterlagen davor gewarnt, mit dem Auto in die Stadt zu fahren. Auch Tempolimits auf Steigungen gehören zum Katalog, um die Konzentration krebserregender PM10-Partikel in der Luft zu reduzieren.
Kommission fordert Beweise


Restlos überzeugt von diesem Konzept ist die EU-Kommission jedoch noch nicht, wie Hermann bei seiner Visite erfahren musste. "Die EU-Kommission war von unserem Konzept beeindruckt und sieht uns auf einem guten Weg", sagte Hermann nach seinem Gespräch mit dem spanischen Umweltgeneraldirektor Daniel Calleja Crespo, "aber sie machte auch klar, dass es nach zehnjähriger Überschreitung der Grenzwerte keinen Rabatt mehr gibt." Die Brüsseler Behörde werde, so Hermann weiter, "nur von einer Klage absehen, wenn wir belegen können, dass die von uns ergriffenen Maßnahmen wirken. Er sagte mehrfach wörtlich: ,Wir wollen Ergebnisse sehen'." Vereinbart wurde deshalb, dass die Landesregierung nach dem Winter, wenn die Schadstoffkonzentration besonders hoch ist, einen ersten Erfahrungsbericht nach Brüssel übermittelt.
Winfried Hermann sieht sich nach seinem Besuch darin bestärkt, auch Fahrverbote nicht von vornherein auszuschließen, die er vor dem Sommer bereits ins Gespräch gebracht hat. "Zuerst kommt es darauf an, dass unsere freiwilligen Maßnahmen zu einem anderen Verkehrsverhalten Erfolg haben."
Hermann favorisiert die Einführung einer blauen Plakette - damit dürften nur noch besonders schadstoffarme Benziner und Diesel sowie elektro- und erdgasgetriebene Fahrzeuge in Stuttgart fahren. "Wenn wir in zwei oder drei Jahren feststellen, dass die Lage nicht besser geworden ist, dann müssen wir zu härteren Maßnahmen greifen. Dies wurde mir klar signalisiert."
Der VW-Skandal um manipulierte Abgaswerte hat nicht nur der Feinstaubbelastung neue Aufmerksamkeit beschert, sondern vor allem der Gefahr durch Stickoxide. Dass Fahrzeuge ein Vielfaches dessen ausstoßen, was die Hersteller angeben, wird als ein Grund dafür angesehen, dass die Messwerte trotz strengerer Grenzwerte kaum sinken. Auch dazu hat die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen insgesamt sechs Mitgliedstaaten eingeleitet. In 29 deutschen Ballungsräumen liegen die Werte zu hoch, darunter auch Freiburg, Tübingen, Karlsruhe und Mannheim. Stuttgart schneidet jedoch auch hier besonders schlecht ab: Es gehört neben München und dem Rhein-Main-Gebiet zu den bundesweit nur drei Metropolregionen, in denen sowohl die pro Stunde wie die pro Jahr zulässigen Obergrenzen gerissen werden.
70 000 Todesfälle


Offiziell teilte die EU-Kommission am Montag lediglich mit, sie prüfe in beiden Verfahren derzeit das weitere Vorgehen. Dennoch rief sie die Regierungen eindringlich zum Handeln auf. "Die Kommission bittet die Mitgliedstaaten, ihre Bürger vor Luftverschmutzung zu schützen, da sie ihrer Gesundheit schadet", so Umweltsprecher Enrico Brivio. Verkehrsminister Hermann berichtete, die Behörde gehe allein für Deutschland von 70 000 vorzeitigen Todesfällen aus: "Der VW-Skandal hat gewaltigen Schaden angerichtet, aber er bietet auch die Chance, nun endlich ein realistisches Abgas-Testverfahren auf europäischer Ebene bis 2017 einzuführen."

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