EU-Gipfelerfolg steht auf Messers Schneide

Brüssel · "Herzlich willkommen" geheißen haben die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union vor zehn Tagen die deutsch-türkischen Vorschläge zur Reduzierung der Flüchtlingszahlen. Inzwischen ist die Euphorie abgeebbt.

Brüssel. Von einer Grundsatzeinigung war nach dem Gipfeltreffen in der Vorwoche die Rede. Der EU-Ratsvorsitzende Donald Tusk wurde lediglich damit beauftragt, bis zur nächsten Zusammenkunft an diesem Donnerstag und Freitag die Details auszuarbeiten. Nun ist aus dem Umfeld des Polen verlautet, dass "jedes einzelne dieser Details ein K.O.-Kriterium für den Deal sein könnte".
Mehrere Staaten haben seit dem letzten Treffen Bedenken angemeldet, auch weil sie sich damals von den Ergebnissen der Vorgespräche von Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Ankaras Premier Ahmet Davutoglu überrumpelt fühlten. In einem dem TV vorliegenden Drahtbericht der deutschen EU-Vertretung in Brüssel an die zuständigen Berliner Regierungsbeamten ist etwa davon die Rede, dass Schweden und Spanien in den Vorabgesprächen "deutliche Kritik am Verfahren" geübt und von einem "fait accompli" gesprochen hätten. Hinsichtlich der geplanten Zugeständnisse an die Türkei gebe es zudem "erhebliche Vorbehalte gegenüber der Öffnung weiterer Beitrittskapitel sowie gegenüber rascher Visaliberalisierung", heißt es in dem Bericht weiter.
Nicht weniger als zwölf EU-Staaten wiesen demnach in der Sitzung darauf hin, dass Ankara alle 72 noch ausstehenden Punkte erfüllen müsse, ehe allen Türken vom Sommer an die Einreise in die EU ohne Visum gestattet werden könne. Kommissionsvize Frans Timmermans aus den Niederlanden unterstrich am Mittwoch, dass "die Türkei keinen Freifahrtschein bekommen wird". Vor allem Zypern habe "grundsätzlichen politischen Widerstand" gegen ein beschleunigtes EU-Beitrittsverfahren geäußert. Die Regierung der geteilten Insel befürchtet demnach, die bisher gut laufenden Wiedervereinigungsgespräche könnten an Dynamik verlieren, wenn sie ihr Faustpfand aus der Hand gäbe.
Im Umfeld von Ratschef Tusk, der am Dienstag Zypern besucht hatte, wurde die Parole ausgegeben, "den EU-Türkei-Deal zu einem Werkzeug für einen Zypern-Deal zu machen". Nikosia fordert die Anerkennung als Staat -, die Ankara dem griechischen Südteil der Insel seit mehr als vier Jahrzehnten verweigert. Nun müssen alle Bedenken und Änderungswünsche unter einen Hut gebracht werden.
Sowohl die EU-Kommission wie auch Tusk speisten am Mittwoch Kompromisspapiere in den Prozess ein. Zentraler Kritikpunkt war von Beginn an das Vorhaben, dass alle in Griechenland ankommenden Bootsflüchtlinge in die Türkei zurückgebracht werden sollen und im Gegenzug für jeden zurückgebrachten Syrer ein anderer Syrer auf legalem Wege in die EU übersiedelt wird. Erklärtes Ziel ist, dass sich Flüchtlinge nicht mehr auf den Weg machen und Schleppern anvertrauen, sondern auf die legale Umsiedlung setzen. Nach der Kritik unter anderem der Vereinten Nationen, dass kollektive Abschiebungen das individuelle Asylrecht aushebeln und der Genfer Flüchtlingskonvention widersprechen, wird nun an einem veränderten System gearbeitet. So sollen die in Griechenland Ankommenden doch dort Asyl beantragen und auch Berufung gegen einen negativen Bescheid einlegen können. Die überwiegende Zahl der Schutzsuchenden würde wie geplant möglichst schnell in die Türkei zurückgeschickt, die von Griechenland als sicheres Drittland eingestuft wird.
Falls die Flüchtlingszahlen durch einen Türkei-Deal wirklich zurückgehen sollten, würde sich ein humanitäres Aufnahmeprogramm anschließen - Merkels sogenannte Kontingentlösung. Ob all das wirklich beschlossen werden kann, steht auf Messers Schneide. Mit fast britischem Understatement wurde daher am Mittwoch in deutschen Regierungskreisen festgestellt, dass "ein wichtiger Europäischer Rat" bevorsteht.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort