Facebook sucht nach Annikas Mörder

Die 20-jährige Studentin Annika B. ist am 27. November in Hannovers Innenstadt erstochen worden. Die Polizei sucht den Täter auch über Facebook und hat damit die Aufmerksamkeit Zehntausender Nutzer erregt. Dieser Fall ist noch offen, doch laut eigener Aussage hat die Polizei Hannover über ihr seit zehn Monaten aktives Facebook-Profil acht Straftaten vom Autodiebstahl bis zum Sexualdelikt aufgeklärt.

Trier/Hannover. Der "Gefällt mir"-Klick auf Facebook ist für Menschen, die mit der größten der sozialen Internet-Plattformen nicht vertraut sind, immer wieder eine verwirrende Geschichte. Die mit Stand von gestern Abend mehr als 86 000 Menschen, die auf dem Facebook-Profil der Polizeidirektion Hannover auf "Gefällt mir" geklickt haben, wollen damit wohl nicht zum Ausdruck bringen, dass ihnen Überfälle, Diebstähle, Körperverletzungen und auch ein Mord tatsächlich gefallen.
Nutzer werden geduzt


Sie geben damit ein Votum ab, mit dem sie die aus ihrer Sicht vorhandene Wertigkeit und Daseinsberechtigung des Internet-Angebots bestätigen - und sie klinken sich in dieses Netzwerk ein und folgen seinen Inhalten.
Diesen Effekt nutzt die Polizei Hannover seit dem 1. März. Sie präsentiert auf Facebook von der Stellenanzeige für fünf kaufmännische Azubis bis zum Zeugenaufruf im Mordfall Annika B. die gesamte Palette polizeilicher Öffentlichkeitsarbeit. Der Ton ist dabei auf ein junges Publikum zugeschnitten, die Nutzer werden geduzt, verstaubtes Beamtendeutsch gibt es nicht. Kommentare sind erlaubt und laufen auch zahlreich ein, jeder Beitrag erzielt zwischen 30 und 80 direkte Reaktionen.
"Der entscheidende Pluspunkt ist das Alter der Facebook-Nutzer", sagt Stefan Wittke, Leiter der Öffentlichkeitsarbeit bei der Polizeidirektion Hannover. "70 Prozent unserer Facebook-Fans sind unter 35 Jahren. Die jungen Leute konsumieren eher zögerlich klassische Medien, sind aber intensiv im Netz unterwegs."
Der Mord an Annika B. ist der spektakulärste Fall innerhalb dieses Profils, das zeigen auch die Zugriffszahlen. Wittke: "Die Phantomskizze eines Tatverdächtigen ist mehr als 170 000 Mal geteilt worden, Millionen Menschen haben sie gesehen." Die Mehrzahl der Facebook-Nutzer sei exakt in der für Kriminalitätsbekämpfung besonders relevanten Altersgruppe zwischen 17 und 30 Jahren. "Besonders in Fällen von Straßen- und Gewaltkriminalität", betont der Polizeisprecher. "Auf diesem Wege lassen sich deshalb leichter Zeugen, Opfer und Täter finden."
Acht konkrete Fälle habe die Polizei Hannover in den vergangenen zehn Monaten über ihre Facebook-Präsenz gelöst: Zwei vermisste Kinder wurden gefunden und der Angriff auf einen Polizisten aufgeklärt. Dazu kommen ein Sexualdelikt, eine gefährliche Körperverletzung, zwei Diebstähle und zuletzt ein Fall von Landfriedensbruch und gefährlicher Körperverletzung in Göttingen.
Zeugen müssen anrufen


Stefan Wittke und seine Kollegen legen großen Wert darauf, klarzustellen, dass ihr Facebook-Profil keine Übertragung polizeiinterner Daten in den öffentlichen Raum zulasse. "Wir posten auf Facebook nur Inhalte, die auch durch Pressemitteilungen verbreitet werden und damit für die Öffentlichkeit bestimmt sind", sagt Wittke. "Die Nutzer weisen wir bei jeder Meldung darauf hin, keine Zeugenhinweise über die öffentliche Kommentarfunktion zu geben, sondern über die stets angegebene Rufnummer der zuständigen Dienststelle." Schon die Startseite des Profils enthält diesen Hinweis.
Die Pflege des Facebook-Profils kostet viel Zeit, alle Einträge müssen ständig überwacht werden. Auch die Kommentare müssen die Beamten ständig im Blick behalten, da hier der Ton sehr schnell kippen kann oder auch konkreter Missbrauch droht, indem aus der Anonymität des Internets heraus falsche Hinweise oder Anschuldigungen kommen. Das Team der Polizei Hannover muss die Lage jederzeit im Blick haben. Es lohnt sich dennoch, meint Wittke. "Ich halte Facebook oder gegebenenfalls auch andere soziale Netzwerke für eine interessante, spannende Ergänzung im Bereich der polizeilichen Öffentlichkeitsfahndung."
Die sechsmonatige Projektphase ist abgelaufen, die Polizei hat ihren Abschlussbericht beim Innenministerium abgeliefert. "Bis zur endgültigen Entscheidung, ob und wie es im Internet weitergeht, bleiben wir online."Meinung

Ermitteln in der Anarchie
Die Polizei Hannover hat zwei Dinge richtig erkannt und konsequent umgesetzt. Nummer eins: Es gibt zurzeit neben der privaten E-Mail keine intensiver genutzte Internet-Kommunikationsform als Facebook. Nummer zwei: Wenn die Polizei diese Plattform zur Öffentlichkeitsarbeit, zur Suche nach Vermissten, der Fahndung nach Straftätern und der Aufklärung von Verbrechen nutzen will, muss sie Zeit und Personal investieren. Facebook ist weder in seiner Natur noch in seiner Struktur eine Basis der sachlichen und pragmatischen Datenübermittlung. Eher das genaue Gegenteil. Das Netzwerk hat eine für den Normalnutzer unvorstellbare Größe erreicht, in der die Dinge alles andere als geordnet und reguliert ablaufen. Das sollen sie auch nicht. Schließlich ist Facebook als Freizeit-Netzwerk gedacht, dessen fröhliche Anarchie seinen Reiz ausmacht. Die sich aus dieser Größe und Freiheit ergebenden Gefahren sind offensichtlich, der Fall Neroth (siehe Extra) zeigt es deutlich. Falsche Verdächtigungen, Hysterie auslösende Befürchtungen und Anschuldigungen mit dem Ziel, jemanden in Verruf zu bringen, können sich auf Facebook mit einer unglaublichen Geschwindigkeit ausbreiten und sind hinterher nicht rückgängig zu machen. Diese Gefahren stellen enorme Anforderungen an jede Polizeibehörde, die das Pilotprojekt aus Hannover übernehmen will. Wer seine Personalplanung nicht danach ausrichtet, sollte besser die Finger davon lassen. j.pistorius@volksfreund.deExtra

Eine öffentliche Fahndung über Radio, Fernsehen, Tageszeitung und auch das Internet stellt einen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Gesuchten dar. Die Staatsanwaltschaft muss zu jeder Fahndung, auch wenn es nur ein Phantombild ist, einen richterlichen Beschluss erwirken. Erst dann darf ein Bild zur Veröffentlichung freigegeben werden. Die Polizei Hannover geht noch einen Schritt weiter: Bevor die Fahndung nach einem Straftäter bei Facebook gepostet wird, wird über den ohnehin vorhandenen richterlichen Beschluss hinaus auch noch ein weiteres Mal die Staatsanwaltschaft Hannover konsultiert. jpExtra

Speyer: Ein Bauunternehmer aus Speyer wird von drei Jugendlichen brutal zusammengeschlagen. Seine Frau postet ein Bild ihres Mannes mit Kopfverband, zugeschwollenen Augen und geknickter Nase auf dem offiziellen Facebook-Profil der Stadt Speyer. Sie erzielt 180 Kommentare, 95 Facebook-Nutzer übernehmen das Bild auf ihre Seiten, eine Internetgruppe "Gegen Gewalt in Speyer" gründet sich. Die Täter hat die Polizei allerdings noch nicht gefunden. Neroth: In dem kleinen Ort im Landkreis Vulkaneifel hält ein mit Bauarbeitern besetzter Kleinbus neben einem Jungen, um ihn wahrscheinlich nach dem Weg zu fragen. So sieht es die Polizei. Über Facebook wird aus dem Fall eine Lawine von Kommentaren aufgeregter und verängstigter Eltern, die einen Kinderschänder am Werk sehen. Es stellt sich dann heraus, dass eine alte Facebook-Meldung von einem vermeintlichen Kinderansprecher in einem weißen Kleinbus zu der Massenhysterie geführt hat. jp

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