Feindbild und Geschenk

Das Willy-Brandt-Haus, die Berliner Parteizentrale der Sozialdemokraten, war gestern Abend so voll wie seit der Bundestagswahl 2005 nicht mehr.

Berlin. (wk) Hannelore Kraft, Vorsitzende der nordrhein-westfälischen SPD, zwängt sich durch die Menge an den Bildschirm. Im fernen Wiesbaden zieht gerade Andrea Ypsilanti in den feiernden Saal der SPD-Fraktion. Hannelore Kraft schaut gebannt auf die Übertragung. So würde sie in zwei Jahren auch gerne ihren Wahlabend erleben. Das Willy-Brandt-Haus, die Berliner Parteizentrale der Sozialdemokraten, ist so voll wie seit der Bundestagswahl 2005 nicht mehr. Das rhythmische Klatschen der Wiesbadener Genossen wird von den Gästen in Berlin aufgenommen, auch die "Andrea, Andrea"-Rufe. Auf den Tischen stehen Fähnchen der beiden Länder, um die es heute geht. Es gibt Quiche aus Hessen und Grünkohl mit Pinkel aus dem Norden. Aber schon nach der ersten Hochrechnung geht es in den Gesprächen nur noch um das südlichere Land. Niedersachsen wird einfach ausgeblendet. "Ganz schlecht wird mir", sagt einer jener Mitarbeiter, die mit Gerhard Schröder einst aus Hannover nach Berlin zogen. "Lassen Sie uns lieber über Hessen reden. Geil, oder?" Zwar ist es eine wahre Zitterpartie um die Mehrheit in Wiesbaden, aber auch das ist fast zweitrangig. Was hier interessiert, ist das Minus von Roland Koch. "Ich könnte springen", ruft ein Juso. "Hauptsache Koch weg. Alles andere ist egal". Koch ist das Feindbild. SPD-Chef Kurt Beck nimmt mit Schwung die Bühne und strahlt. Vizekanzler Steinmeier, Fraktionschef Struck und der Hamburger SPD-Spitzenkandidat Naumann sind mit ihm in den Saal gekommen. Auch Beck redet zunächst nur von Hessen und davon, dass man dort auf das richtige Thema gesetzt habe, nämlich Gerechtigkeit. Dann merkt Beck, dass er jetzt auch was über Niedersachsen sagen muss: "Natürlich haben wir auch in Niedersachsen die richtigen Themen gehabt, nämlich die gleichen". Die im Raum stehende peinliche Frage, warum es dann in dem einen Land geklappt hat, in dem anderen aber nicht, beantwortet Beck nach einer kurzen Denkpause damit, dass Christian Wulff diesen Themen ausgewichen sei, mal so mal so geredet habe. "Eine Null-Nummer". So erklären es sich die meisten. Wolfgang Jüttner habe gegen Wulff keine Polarisierung hinbekommen. Koch, das große Feindbild der SPD, war demzufolge so etwas wie ein Geschenk für die hessischen Genossen, und eigentlich müssten sie ihm dankbar sein. Aber das will sich hier natürlich niemand zugestehen. Hannelore Kraft auch nicht. Sie hat 2008 den ebenfalls sehr geschmeidigen Jürgen Rüttgers gegen sich. "Ich werde im Wahlkampf klare Kante zeigen", sagt sie. Also polarisieren. ´

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