Flucht nach vorn

BERLIN. Die Äußerungen des Bundespräsidenten Horst Köhler zu den unterschiedlichen Lebensverhältnissen in Deutschland haben eine Diskussion ausgelöst - im Umfeld von Hartz-Demos und bevorstehenden Landtagswahlen aus Sicht einiger Politiker eine Debatte zum falschen Zeitpunkt.

Das Bundespräsidialamt trat gestern die Flucht nach vorn an: "Man soll sich doch eigentlich nur korrigieren, wenn man sich nicht präzise oder falsch ausgedrückt hat. Das sehen wir nicht", meinte der Sprecher von Bundespräsident Horst Köhler, Martin Kothé, gegenüber unserer Zeitung. Im Klartext heißt das, das Staatsoberhaupt sieht keinen Grund, beispielsweise der Aufforderung von Grünen-Chef Reinhard Bütikofer nachzukommen, seine umstrittenen Äußerungen über die unterschiedlichen Lebensverhältnisse in Deutschland noch einmal klarzustellen. Das Gegenteil ist der Fall: "Wir freuen uns", sagt Kothè selbstbewusst, "dass der Debattenanstoß gelungen ist". Waren die Äußerungen Köhlers also das kalkulierte Anstacheln einer längst überfälligen Diskussion, wie sein Amt gestern glauben machen wollte? So etwas wie die ungeschminkte Wahrheit? In einem Interview mit dem Magazin "Focus" hatte das Staatsoberhaupt gesagt, es gebe überall in Deutschland große Unterschiede in den Lebensverhältnissen. "Wer sie einebnen will, zementiert den Subventionsstaat und legt der jungen Generation eine untragbare Schuldenlast auf." Sätze, die viel Spielraum für Interpretationen lassen.Rückenwind für "dumpfen Populismus"

Fakt ist, Horst Köhler hatte vor seinem Amtsantritt im Mai dieses Jahres angekündigt, er werde ein unbequemer Präsident werden, der kein Blatt vor dem Mund nehmen wolle - die jüngsten Aussagen des Bundespräsidenten wurden deshalb erst recht als Absage an das grundgesetzliche Ziel der gleichen Lebensverhältnisse in ganz Deutschland ausgelegt. Obwohl Köhler dies in dem Interview nicht so sagt. Die Debatte bekomme jetzt aber von Tag zu Tag mehr Qualität, "im Moment dreht sie sich, das ist gar nicht so schlecht", sagt Köhlers Sprecher Kothé. Und: "Wir freuen uns auch darüber, dass zunehmend der Wortlaut der Äußerungen des Bundespräsidenten in den Vordergrund tritt." Trotzdem: Die Kritik am neuen Bundespräsidenten hielt gestern unvermindert an. Der Hauptgrund dafür mag wohl vor allem am Zeitpunkt von Köhlers Bemerkungen zur Lage der Nation liegen - zwischen Ost und West kriselt es kräftig mit Blick auf die Bewertung der Erfolge des Aufbau Ost; gerade in den neuen Ländern finden immer noch Montagsdemos gegen Hartz IV statt, und besonders wichtig: In Brandenburg und Sachsen stehen Landtagswahlen vor der Tür, deren Ausgang spannend und offen ist. Die Wahlkämpfer werden nervös, weil sie in Köhlers Äußerungen möglicherweise Rückenwind für diejenigen sehen, die "einen bestimmten dumpfen Populismus" bedienen, sagt die Grünen-Chefin Angelika Beer. Der SPD-Bundestagsfraktionsvize Ludwig Stiegler sieht in Köhlers Worten sogar einen "Aufruf zur Resignation". Verwunderlich ist es daher nicht, dass auch in der Union gerade die ostdeutschen Vertreter nicht mit Kritik an dem Mann sparen, den sie mit der FDP vor wenigen Monaten noch zum Staatsoberhaupt gemacht hatten.Streitkultur ist laut - aber auch flach

Eine klare Linie gibt es indes in den Parteien nicht. SPD-Partei- und Fraktionschef Franz Müntefering nannte die Aussagen des Staatsoberhaupts zum Beispiel "ausgewogen". Und Wirtschaftsminister Clement kommentierte: "Ich habe die Äußerungen des Bundespräsidenten als eine ganz richtige Beschreibung dessen, was ist, verstanden." Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel mahnte zudem eine "Versachlichung der Debatte" an. Man solle das komplette Interview des Präsidenten zur Kenntnis nehmen. Tut man dies, wird man übrigens folgendes (zur Debatte passendes?) von Köhler lesen: "Wir müssen den Streit um die wirklichen Alternativen neu entdecken. Unsere Streitkultur ist sehr laut geworden - aber leider auch sehr flach."

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