G20: "Den Gipfel in die Stadt zu holen, war ein Fehler" (Fotos)

Hamburg · Die Hamburger sind schockiert. "Ein Festival der Demokratie" sollten die Proteste werden. Doch es kommt ganz anders. Ein gewalttätiger Mob marodiert durch das Schanzenviertel, über Stunden herrscht Anarchie. Zurück bleiben Erinnerungen an bürgerkriegsähnliche Zustände.


Hamburg (dpa) Der Geruch der Hamburger Chaostage liegt am Sonntagmorgen noch immer in der Luft. In einem ausgeplünderten Supermarkt ist wieder ein Glutnest entflammt, verbrannte Barrikaden kokeln vor sich hin, überall liegen kaputte Flaschen. Auf dem Weg zum Bäcker umkurven Anwohner auf ihren Rädern die Scherben. Andere sehen in der Straße Schulterblatt mit einem Kaffee in der Hand zu, wie die Stadtreinigung die Spuren der Zerstörung wegkehrt.
Doch die schwersten Ausschreitungen in der Hansestadt seit Jahrzehnten haben mehr als nur zerstörte Straßenzüge hinterlassen. Zurück bleibt vor allem Wut. Und Fassungslosigkeit.

"Das war Bürgerkrieg. Die Leute wurden im Stich gelassen", sagt Anwohner Jörg Müller (43), der mit seinem Sohn David im Schulterblatt gerade Brötchen gekauft hat. Und keiner übernehme dafür die Verantwortung. "Den Gipfel zu schützen, ist ein Ziel gewesen. Aber Anwohnern die bürgerkriegsähnlichen Zustände zu überlassen geht gar nicht."
Wie er denken viele nach den Gewaltexzessen, die sich über Tage vor ihrer Haustür abspielten. Die über allem thronende Frage: Wie konnte das passieren, wenn man weiß, dass es passiert? "Man hätte denken können, dass die Ausschreitungen so heftig werden", sagt Anwohner Konstantin (27), seinen kleinen Sohn Noah im Arm haltend.

Vor ihrem Haus hätten die Chaoten Barrikaden errichtet: "Da kriegt man schon Angst." Und er habe sich gefragt: "Gibt es noch Tote? Werden Häuser angezündet?" Diese Eindrücke müssten die Leute erst einmal verarbeiten, ist Konstantin sicher: "Das bleibt in den Köpfen."
In den Köpfen wird wohl auch bleiben, dass von Bürgermeister Olaf Scholz im Schanzenviertel lange nichts zu sehen war (siehe Bericht unten rechts). Der Chef der Drogeriekette Budnikowsky, Cord Wöhlke, schaut sich - den Tränen nah - das Trümmerfeld in der geplünderten Filiale im Schulterblatt an. "Diese Bilder bleiben von G 20 übrig (...) und verdrängen alles andere", sagte Wöhlke.

Die aufgebrachte Psychologin Silka Hagena (52) sagt, selbst im Stadtteil Eimsbüttel habe sie fünf Nächte nicht mehr geschlafen. "Das ist Psychoterror, auch für die Anwohner."
Andere blicken am Sonntagvormittag lieber nach vorn. Zwei Straßenmusiker stimmen schräg gegenüber vom linksautonomen Kulturzentrum Rote Flora Leonard Cohens Hymne "Hallelujah" an. Ein Handwerker entfernt vor dem Café Park die vor den Fenstern angebrachten Holzlatten. "Es muss wieder nach Leben riechen", sagt Café-Mitarbeiter Shahram (43).

In den Nächten davor roch es anders: Da stieg einem der Gestank von Zerstörung, sinnloser Gewalt und brennenden Barrikaden aus Mülltonnen, Fahrrädern und Verkehrsschildern in die Nase. Vor allem am Freitagabend regierte der Mob auf der Schanze. Es herrschte Anarchie, der Staat schaute ohnmächtig zu. Erst nach Stunden griff die Polizei mit Spezialeinheiten massiv durch und sorgte für Ordnung.
Während Merkel und ihre mächtigen G-20-Gäste in der Elbphilharmonie Beethovens "Freude schöner Götterfunken" lauschten, gingen draußen die Krawalle richtig los. Vermummte plünderten Läden, trugen alles raus, zerfetzten das Mobiliar, um es unter dem Jubel Schaulustiger auf der Straße ins Feuer zu werfen. Es brannte lichterloh. Hässliche Szenen gingen um die Welt. "Das war nicht das Bild vom Tor zur Welt", sagt Kai Kistenmacher (59), als er am Sonntag durch das Schulterblatt läuft.

Und wieder die Frage: Wie kann es sein, dass etwa 1500 militante Gewalttäter eine ganze Straße zum rechtsfreien Raum machen, wenn die Sicherheitsbehörden doch rund 8000 gewaltbereite Linksextremisten erwartet haben? Mit einer Erklärung tun sich alle schwer. Scholz räumt ein, dass er sein Sicherheitsversprechen nicht eingehalten hat. "Das ist sehr bedrückend, dass uns das nicht gelungen ist", sagt er.
Und es ist für viele auch unverständlich, warum es in der Nacht zum Sonntag erneut zu einem Ausbruch der Gewalt kommt - wenn auch nicht so exzessiv wie 24 Stunden zuvor. Als Donald Trump und die anderen Staatsgäste längst wieder auf dem Heimweg sind, fliegen erneut Flaschen und Steine. Stundenlang liefert sich die Polizei ein Katz-und-Maus-Spiel mit Hunderten Krawallmachern. Wieder Barrikaden, wieder Wasserwerfer und Tränengas, wieder brennende Autos. Die vorherigen Bilder des größtenteils friedlichen Protests bei zwei Großdemos mit Zehntausenden Teilnehmern geraten in den Hintergrund.

Eine erste Bilanz der Exzesse am Sonntagmittag: 476 verletzte Polizisten, 186 festgenommene und 225 in Gewahrsam genommene Menschen, Dutzende zerstörte Autos, Schäden in Millionenhöhe.
Selbst die Hamburger Autonomen rund um die Rote Flora versuchen, sich von der "völlig sinnentleerten Gewalt" am Freitagabend im eigenen Viertel zu distanzieren. Rote-Flora-Anwalt Andreas Beuth meint, viele der Gewalttäter seien aus dem Ausland gekommen. Die Polizei weist diese Distanzierung zurück und nennt die Rote-Flora-Vertreter "geistige Brandstifter".

Dass die Hamburger Chaostage längst eine Staatsangelegenheit sind, zeigt sich auch daran, dass sich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Sonntag gemeinsam mit Scholz über die Lage informiert und Sicherheitskräfte und Bewohner trifft (siehe Bericht unten).
Klar ist: Die politischen Aufraümarbeiten werden länger dauern als jene in den Straßen und Geschäften der Hansestadt. Und die Hamburger sind sich weitgehend einig: Den Gipfel in ihre Stadt zu holen, war ein Fehler. "So denkt die ganze Bevölkerung", sagt Schanzen-Anwohner Horst (73).Extra: DER SCHWARZE BLOCK: KEINE EINHEITLICHE GRUPPIERUNG


Im sogenannten schwarzen Block schließen sich unterschiedliche linksradikale Gruppen zusammen, um etwa bei Großdemonstrationen zu randalieren. Was die Teilnehmer eint, ist die Ablehnung der herrschenden staatlichen Ordnung und von allem, was in ihren Augen den Kapitalismus verkörpert. Dazu gehören etwa Banken, Autos und Handelsketten. In den vergangenen Jahren haben sich allerdings auch Rechtsextremisten zu einem schwarzen Block zusammengeschlossen. Der schwarze Block hüllt sich ganz in Schwarz, um für die Polizei nicht identifizierbar zu sein. Auch der Kopf wird durch Kapuzen, Mützen und Sonnenbrillen verdeckt. Solange die schwarze Kleidung nicht gebraucht wird, tragen die Extremisten sie versteckt. So sind sie auf der Straße schwer auszumachen. In Deutschland gehörten dem gewaltbereiten linksextremistischen Bereich laut Verfassungsschutzbericht 2016 rund 8500 Personen an.

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