Gegen die Kurzatmigkeit

BERLIN. Als damaliger SPD-Vorsitzender hat Matthias Platzeck (TV-Foto: Friedemann Vetter) vor einem Jahr die schwarz-rote Koalitionsvereinbarung in Berlin mitunterschrieben. Im April legte er sein Amt aus gesundheitlichen Gründen nieder. Im Gespräch mit unserer Zeitung zieht der brandenburgische Ministerpräsident eine Bilanz über die Arbeit der großen Koalition.

Herr Platzeck, wurmt es Sie manchmal, nicht mehr ganz vorn auf der bundespolitischen Bühne mitzumischen?Platzeck: Klipp und klar: nein. Wenn bei mir eine Entscheidung gefallen ist, dann ist sie gefallen. Ich habe daher auch keinen Anlass zur Wehmut, sondern kann damit gut leben. Die Konjunktur läuft, die Arbeitslosenzahlen gehen zurück, aber die große Koalition ist den Bürgern eher ein Gräuel. Was läuft da schief? Platzeck: Viele hatten ganz einfach übermäßige Erwartungen. Sie erhofften sich so eine Art Hackebeil, mit dem die gordischen Knoten von jetzt auf gleich durchgeschlagen würden. Manche nannten das "durchregieren". Aber das gibt es weder mit einer kleinen noch mit einer großen Koalition. Allerdings sollte man nicht vergessen, was da in den letzen zwölf Monaten auf die Schiene gesetzt wurde: Föderalismusreform, Investitionsprogramm, Gesundheitsreform, die übrigens besser ist als ihr Ruf. Und nicht zu vergessen eine exzellente Außenpolitik von Frank Steinmeier. Ich sage, Politik muss sich abgewöhnen, nur von der einen auf die nächste Umfrage zu starren. Also Augen zu und durch?Platzeck: Nein. Ich meine, dass mit Kurzatmigkeit keine langfristigen Entwürfe zu Stande kommen können. Eine Wahlperiode ist angesichts der Aufgaben mit vier Jahren schon knapp bemessen. Sicher gibt es kaum etwas, das nicht noch besser gemacht werden könnte. Nur versteht darunter jeder etwas anderes. Dem einen gehen die Reformen zu weit, dem andern nicht weit genug. Am Ende muss ein Mittelweg gefunden werden, der zwangsläufig selten Glückseligkeit hinterlässt. Daher wohl auch die - ungerechtfertigte - Enttäuschung bei manchem Bürger. Zurzeit scheint die Union die SPD links überholen zu wollen, während sich Ihre Partei als wahre Reformkraft stilisiert. Haben Sie eine Erklärung für die ungewohnte Frontstellung?Platzeck: Die Union weiß nicht so recht, wo sie hinmarschieren soll. Manche haben sich wohl immer noch nicht mit der Kanzlerschaft Angela Merkels abgefunden. Mancher sieht sich vielleicht auch als der bessere Regierungschef. Die SPD hält aus Überzeugung Kurs. Wir sagen, die von Gerhard Schröder eingeleiteten Reformen waren richtig. Deutschlands Wirtschaft wächst, neue Arbeitsplätze entstehen. Deshalb müssen wir diesen Weg weitergehen."Ich vertraue auf Angela Merkel"

Gerade in Ostdeutschland würden sicher viele Menschen eine verlängerte Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes begrüßen, wie es Teile der Union fordern.Platzeck: Ich bezweifle, dass die scheinheilige Idee des Kollegen Rüttgers nicht durchschaut wird. Er hat bis heute nicht gesagt, wem er im Gegenzug Geld wegnehmen will. Darauf läuft es aber hinaus, denn das Ganze soll ja aus CDU-Sicht nicht mehr kosten. Deshalb muss, wer Älteren länger geben will, Jüngeren was wegnehmen. Das ist unsolidarisch. Im Übrigen: Den meisten Menschen ist mehr daran gelegen, den Arbeitsplatz zu sichern oder wieder in Arbeit zu kommen. Darauf müssen wir unsere Kreativität verwenden. Nur das befreit von den Grundängsten, in den Strudel des dauerhaften sozialen Abstiegs zu kommen. Dazu muss in der Union ein Klärungsprozess stattfinden. Ich vertraue auf Angela Merkel, dass dies bald geschieht. Sie haben sich in der SPD-Programmdebatte für einen vorsorgenden Sozialstaat eingesetzt. Muss Ihre Partei auf diesem Gebiet radikal umdenken?Platzeck: Seit Jahren beklagen wir massive Bildungs- und Ausbildungsdefizite, eine mangelnde Integration von Einwanderern und neuerdings auch eine wachsende Hoffnungslosigkeit in Teilen unserer Gesellschaft. Also müssen wir wegkommen vom ,Weiter so'. Der Sozialstaat repariert bislang, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist. In Zukunft müssen wir zunehmend vorsorgend aktiv werden. Das heißt, neben der klassischen Sozialpolitik müssen Bildung, Familie, Integration als tragende Säulen unseres Sozialstaates begriffen werden. Mit Ihrem Vorstoß, das Kindergeld zu Gunsten eines Ausbaus der öffentlichen Betreuungsmöglichkeiten zu kürzen, haben Sie sich keine Freunde gemacht. War das nur als Provokation gedacht?Platzeck: Mir geht es um eine ehrliche gesellschaftliche Debatte, die in der Öffentlichkeit auf einen einzigen Punkt reduziert wurde. Ich habe nicht gefordert, das bestehende Kindergeld zu kürzen. Wir müssen aber darüber reden, statt weiterer Erhöhungen des individuellen Kindergeldes das Geld für die Kinderbetreuung in den ersten Jahren auszugeben. Denn auf den Anfang kommt es an! Das Gespräch führte unser Korrespondent Stefan Vetter.

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