Genossen suchen "Abteilung Angriff"

BERLIN. Der Kanzler hatte wichtige Termine abgesagt, um bei den Genossen zu sein. Eine Woche nach dem Wahldebakel in Thüringen und Europa brüteten gestern die SPD-Spitzengremien im Willy-Brandt-Haus über die düstere Lage der Partei und ihre politischen Konsequenzen.

An allgemeinen Ratschlägen herrschte schon im Vorfeld kein Mangel. Vorstandsmitglied Sigmar Gabriel empfahl, endlich wieder die "Abteilung Angriff” zu öffnen und auf den politischen Gegner zu feuern. Der neu gewählte Juso-Chef, Björn Böhning, setzte sich für einen "Fahrplan Gerechtigkeit” ein. Und der rheinländ-pfälzische Regierungschef, Kurt Beck, mahnte seine Parteifreunde, "die Reihen zu schließen”. Im Vorstand und bei der anschließenden Sitzung des Parteirates gab es von allem etwas. Beide Runden erlebten Teilnehmern zu Folge einen kämpferischen Gerhard Schröder, der den Genossen noch einmal den fundamentalen Unterschied zwischen Wünschbarem und Machbarem vor Augen führte. Den selben Geist atmete auch eine mit Spannung erwartete Grundsatzrede von Parteichef Franz Müntefering. "Es gibt bei der Agenda keine Kehrtwende”, bekräftigte der Sauerländer hinterher auch vor Journalisten. Die Reaktionen waren nicht sonderlich berauschend. Der große Aufstand hinter verschlossenen Türen blieb zwar aus. Gleichwohl brach sich "scharfe Kritik” (ein Teilnehmer) genau an jenen Reformen Bahn, die Müntefering und Schröder glühend verteidigt hatten. Als exemplarisch für die soziale Schieflage wurden dem Vernehmen nach immer wieder die Hartz-Gesetze genannt. Stein des Anstoßes sind hier die finanziellen Verschlechterungen für Langzeitarbeitslose und die verschärften Zumutbarkeitsregeln für die Arbeitsaufnahme. Auch Maßnahmen wie die Eintrittsgebühr beim Arzt seien für die Wählerverluste maßgeblich mitverantwortlich. Der Parteichef und sein Kanzler nahmen die Vorhaltungen meist kommentarlos zur Kenntnis. Bei der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe sicherte Müntefering aber immerhin zu, den Einführungstermin zum 1. Januar 2005 von der "geordneten Umsetzung” abhängig zu machen. Bund und Länder sind bei der Reform immer noch über die Finanzierung uneins. Manchem war das trotzdem zu dürftig. "Die wirklichen Problem, die die Leute umtreiben, wurden gar nicht angesprochen”, klagte ein Vorstandsmitglied. Dafür hatte Müntefering eine siebenseitige Rede ausgearbeitet, die von den großen Linien geprägt war und das Parteivolk neu motivieren sollte. "Die SPD wird gebraucht”, hieß es darin einmal mehr. "Ihr Zweck ist es, zu regieren”. Von ähnlicher Schlichtheit zeugten auch die Passagen über den politischen Gegner. Am 12. Juli, zwei Tage nach der Regierungsklausur in Neuhardenberg, will der Parteivorstand erneut zusammen kommen. Ende August ist eine Klausur vorgesehen. Anfang September soll die Bundestagsfraktion bei einem mehrtägigen Treffen ihr Arbeitsprogramm "präzisieren”. Vielleicht herrscht dann auch Klarheit über Münteferings vage Ankündigung, in Sachen Konjunktur zu prüfen, "ob beziehungsweise wie zusätzliche Impulse direkt oder indirekt gegeben werden können”. Kostenträchtige Konjunkturprogramme hatte die Bundesregierung bislang immer abgelehnt. Für DGB-Vize Ursula Engelen-Kefer haben die beiden Sitzungen dann auch kaum etwas gebracht: "Ich erwarte, dass wir nicht bei allgemeinen Grundsätzen stehen bleiben, sondern konkrete Perspektiven für die Menschen aufzeigen”, sagte sie unserer Zeitung. Der saarländische Bundestagsabgeordnete Ottmar Schreiner, ein profilierter Kritiker der Agenda-Politik, konnte übrigens aus gesundheitlichen Gründen nicht bei den Beratungen dabei sein. Allerdings hatte Schreiner ohnehin keine Wunder erwartet: "Die einen halten am Kurs fest, die anderen sagen, der Kurs ist das Problem. Ich sehe nicht, wie sich das lösen lässt”.

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